Aufstieg der Schattendrachen. Liz Flanagan

Aufstieg der Schattendrachen - Liz Flanagan


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das kalte Metall schmiegte sich an seine Kehle. »Hier, ich habe auch etwas für dich: Frühstück!«, sagte er dann. Er gab Milla eine Zimtschnecke und zupfte seine auseinander.

      »Ooh, noch warm und frisch aus dem Ofen. Matteos Zimtschnecken sind genauso gut wie Josis«, sagte Milla, als sie sich mit einem Nicken bedankte.

      »Sag das lieber nicht zu laut.« Jo grinste sie an. Das Temperament seiner Mutter war ebenso legendär wie ihre Backkünste. Josi gehörte heutzutage zur besten Gesellschaft von Arcosi; jeder wusste, dass sie eine Nachfahrin der alten königlichen Familie war. Doch als Milla noch ein Kind gewesen war, hatte Josi als Köchin im Haus der Thornsens gelebt und ihre wahre Identität verborgen.

      »Also«, sagte Milla bedächtig. »Heute ist dein großer Tag.«

      »Hm-hm«, murmelte Jo, den Mund voller Gebäck.

      »Bist du bereit?«, fragte sie.

      »Ich fühle mich bereit.« Er zögerte und spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, als er beschloss, sich ihr anzuvertrauen. »Heute Morgen habe ich von einem Drachen geträumt. Einem purpurroten Drachen. Ist dir das mit Iggie auch so gegangen …?«

      Milla lächelte, als sie sich zurückerinnerte. »Ja, ein paar Mal. Ich konnte ihn nicht genau erkennen. Aber ich wusste, dass er blau war und dass wir zusammen fliegen würden.«

      »Ja, genau!«, sagte Jo erleichtert. »So hat es sich auch bei mir angefühlt.«

      Und dann hielt er es plötzlich nicht mehr aus. »Gibt es denn ein purpurrotes Ei? Wie viele sind es? Du hast sie doch gesehen, nicht? Nun sag schon, Milla!«, bettelte er.

      »Du weißt, dass ich das nicht kann.« Millas braune Augen hielten seinem Blick stand, sie leuchteten lebendig und verschmitzt.

      Er wertete das als ein Ja. Es gab ein purpurrotes Ei! Er hatte es gewusst.

      Milla gähnte ausgiebig, und zum ersten Mal fielen Jo die dunklen Ringe unter ihren Augen auf. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

      »Hab letzte Nacht nicht viel geschlafen«, erwiderte sie. »Es gab Ärger in der Unterstadt. Tarya musste ein paar Drachenreiter losschicken, damit sie ihre Truppen unterstützen.«

      »Ärger mit der Bruderschaft?«, mutmaßte Jo.

      »Mit wem sonst?« Milla verzog das Gesicht.

      Nachdem kurz vor Jos Geburt die Drachen nach Arcosi zurückgekehrt waren, hatte man die arcosische Armee halbiert. Auf der Insel wurden einfach nicht mehr so viele Soldaten gebraucht, seit die Drachen Arcosi beschützten. Also wurde die Hälfte der Soldaten ausbezahlt und entlassen. Einige von ihnen waren davon wenig begeistert, schlossen sich zusammen und nannten sich »die Bruderschaft«. Sie lungerten herum, stifteten Unruhe und pöbelten, aber niemand nahm sie richtig ernst.

      »Tarya kann nichts dafür!«, nahm Jo seine Schwester in Schutz, die die oberste Heerführerin von Arcosi war. »Sie hat sich den entlassenen Soldaten gegenüber sehr großzügig verhalten.« Das hatte er seinen Vater viele Male sagen hören.

      »Das tut sie immer noch, und genau da liegt das Problem.« Milla seufzte. »Ich verstehe, dass sie die Kerle nicht verbannen kann, weil es ihnen womöglich Sympathien einbringen würde, aber …« Sie brach ab.

      »Aber?«, hakte Jo nach. Er hatte die Männer gesehen: Sie trugen immer noch ihre alten Uniformen, so zerlumpt und verblichen sie inzwischen auch waren. Sie hingen an Straßenecken herum, tranken am helllichten Tag und versuchten, die Leute von ihren Vorstellungen zu überzeugen. »Sie sind doch harmlos … oder?«

      »Tut mir leid, Jo.« Milla legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich sollte dich nicht mit meinen Sorgen behelligen, nicht an deinem Geburtstag. Lass dir die Schlüpfzeremonie von mir nicht verderben. Wie fühlst du dich?«

      Jo zögerte und dachte ernsthaft über die Frage nach. »Aufgeregt? Ein bisschen nervös.«

      »Mach dir keine Gedanken – alle Drachen sind gesund.«

      »Bist du sicher?«, fragte er besorgt.

      Die jetzigen Eier waren erst das zweite Gelege seit dem Großen Drachensterben. Vor zwei Jahren hatte sich in den Drachenhallen von Arcosi eine schreckliche Krankheit ausgebreitet und mehr als die Hälfte der Drachen hinweggerafft. Jos Bruder Isak, der genau wie Milla einer der ersten Drachenreiter gewesen und nun der oberste Drachenwächter von Arcosi war, hatte vor Kummer über Nacht schlohweiße Haare bekommen.

      »Isak hat sie nicht aus den Augen gelassen«, sagte Milla. »Er hat die Eier gehütet, als wären es seine eigenen.«

      Heute musste auch für alle anderen ein aufregender Tag sein, begriff Jo plötzlich. Als das Große Drachensterben einsetzte, hatte niemand die Drachen retten können: weder Milla mit ihren Heilkünsten noch Isak mit seiner Klugheit, weder Tarya mit ihren kämpferischen Fertigkeiten noch Herzog Vigo mit all seiner Macht. Jo hatte die Gerüchte gehört. Die Leute flüsterten sich zu, es sei ein Zeichen, diese jungen Leute wüssten nicht, was sie tun, und besser jemand anders übernähme die Führung der Stadt. Daher waren sie alle darauf angewiesen, dass heute alles gut ging.

      Allerdings nicht so sehr wie er.

      Als Jo den Kopf senkte, bemerkte er, dass er seinen silbernen Anhänger fest umklammerte. Bitte lass mich heute an die Reihe kommen, wünschte er sich. Bitte lass mich kein Watschler sein!

      Das war ein Schimpfwort für Leute, die sich nicht mit einem Drachen verbanden. Jemand, der auf der Erde bleiben musste: ein Watschler! Jemand, der nie auf dem Rücken eines Drachen fliegen würde. Die Kinder flüsterten es einander vor jeder Schlüpfzeremonie zu. Eigentlich durfte man das nicht sagen. Die meisten Menschen auf der Insel waren Watschler. Und nur wenige glückliche Drachenreiter. Aber das hielt die Kinder nicht davon ab, zu beten, zu träumen und sich zu wünschen, dass sie von einem Drachen erwählt wurden.

      Seit die Drachen zurückgekehrt waren, hatten sich sämtliche Nachkommen in Jos Familie mit einem Drachen verbunden. »Ach, Milla, ich hoffe wirklich, dass alle Eier gesund sind. Egal, mit wem sie sich verbinden.«

      »Ist schon gut, Jo!«, sagte Milla mit verständnisvollem Blick. »Was dir bestimmt ist, wird nicht an dir vorübergehen.«

      Jo nickte beruhigt.

      »Komm, lass uns aufbrechen. Es wird Zeit, dass wir uns fertig machen.« Sie rutschte ans Ende der Mauer, sprang herunter und landete geschickt auf beiden Füßen.

      Jo folgte seiner Cousine. Er spürte, wie seine Anspannung wieder zunahm. Die Luft roch nach Salz und Holzfeuer, und in der Ferne hörte er die Rufe der Fischersleute im Hafen, es waren die Geräusche der zum Leben erwachenden Insel.

      Iggie kletterte von dem Platz herauf, an dem er in den ersten Sonnenstrahlen gedöst hatte. Zu Jos Überraschung kam er zuerst zu ihm und legte ihm die riesige Stirn an die Brust.

      »Er wünscht dir viel Glück«, erklärte Milla. »Von uns beiden …«

      Dankbar kraulte Jo Iggie zwischen den Augen, schließlich wusste er, dass das Herz des Drachen ganz und gar seiner Cousine gehörte. »Danke, Ig«, flüsterte er so leise, dass nur der Drache es hören konnte. »Hoffen wir, dass du heute noch einen frisch geschlüpften purpurnen Drachen kennenlernen darfst.«

      Iggie schloss die riesigen grünen Augen zur Hälfe und knurrte leise. Jos ganzer Körper vibrierte davon.

      Er entspannte sich. Es würde alles gut gehen. Heute würde der beste Geburtstag seines Lebens werden.

      Als Jo im Gelben Haus die Treppe hinaufstürmte, um sich umzuziehen, hörte er seine Eltern über ihn sprechen. Er hörte das Klock und Klack vom Gehstock seines Vaters, mit dem dieser auf und ab marschierte.

      »Und warum ist er dann nicht hier?«, fragte sein Vater gerade. »Was könnte wichtiger sein?«

      »Nestan, mein Lieber«, erwiderte die Mutter. »Reg dich nicht auf. Er wird nicht zu spät kommen. Er war so aufgeregt,


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