Aufstieg der Schattendrachen. Liz Flanagan

Aufstieg der Schattendrachen - Liz Flanagan


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hab mich mit Milla unterhalten und die Zeit vergessen.«

      Seine Mutter stürzte als Erste auf ihn zu. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Jo!« Sie zog ihn innig an sich und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange. Sie trug bereits ihre feierlichste Kleidung: ein blutrotes Kleid mit einem passenden Seidenschal über den schwarzen Haaren. »Hier ist dein Geschenk von uns.« Sie zeigte aufs Bett.

      Neben seinen weißen Kleidern für die Zeremonie lag ein großes Paket.

      Jo sauste hinüber, schnappte sich das Paket und riss es ungeduldig auf. Es enthielt eine pelzbesetzte Kappe und lange seidengefütterte Lederhandschuhe, die gleichermaßen bequem und warm waren. Beim Fliegen konnte einem kalt werden, hatte Milla oft gesagt. Sobald sein Drache groß genug war, um ihn zu tragen, würde er diese Sachen brauchen. Drachenreiter trugen immer die Farbe ihres Drachen. Und die Geschenke waren … purpurrot! Dieselbe Farbe wie in seinem Traum.

      Woher wussten sie das?

      »Danke«, flüsterte er voller Freude über diesen Beweis, dass sie an ihn glaubten.

      »Du kannst die Sachen später anprobieren, hinterher …«, sagte Josi.

      »Herzlichen Glückwunsch, Jo«, sagte sein Vater und zog ihn mit einem Arm an sich. »Da wäre noch das hier, jetzt, wo du zwölf bist.« Von seiner Schulter hing ein großer, zylinderförmiger Behälter an einer Lederschnur. Nestan schwang ihn nach vorn, packte die Schnur und reichte seinem Sohn den Behälter.

      Jo nahm ihn entgegen. Sein Gewicht und die glatte Textur kamen ihm bekannt vor. Eine Erinnerung stieg in ihm auf, aus den Tagen, als er seinem Vater wie ein kleiner Schatten überallhin gefolgt war, ihm unendlich viele Fragen gestellt und von früh bis spät geduldige Antworten erhalten hatte.

      Er stand im Arbeitszimmer seines Vaters und war noch so klein, dass er kaum über die Tischplatte schauen konnte.

      »Was ist das?«, hatte Jo gefragt und auf einen glatten schwarzen Lederbehälter gedeutet.

      »Das ist mein Überlebensset«, hatte Nestan ihm erklärt. »Es hat mir bei Schiffbrüchen schon dreimal das Leben gerettet.«

      »Wie denn?«, fragte Jo, der kein Wort verstand.

      »Wenn ein Schiff untergeht, bleibt dir nicht viel Zeit«, hatte sein Vater erklärt und nach dem zylinderförmigen Behälter gegriffen. »Drei Dinge haben mich gerettet: Glück, mein Schwimmvermögen und das hier.«

      »Was ist da drin?«

      »Feuerstein und Zunder, eine Klinge, Angelschnüre, Haken, eine Ölhaut, ein Kompass …« Nestan öffnete den Behälter und kippte den Inhalt auf den Schreibtisch. »Alles, was man zum Überleben braucht.«

      Und nun hielt Jo sein eigenes Überlebensset in der Hand. »Boah, danke, Vater«, sagte er gerührt. Dann fügte er scherzhaft hinzu: »Gehst du davon aus, dass ich es brauchen werde?«

      »Es ist eine Tradition. Wir sind ein Seefahrervolk«, sagte Nestan. Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, seine blauen Augen waren von Lachfältchen umgeben. »Früher erhielt jedes Norländerkind an seinem zwölften Geburtstag sein eigenes Überlebensset. Trag es immer bei dir und hoffe darauf, dass du es niemals brauchen wirst.«

      »Na, heute zumindest nicht, oder?« Jo stellte den Behälter aufs Regal und wandte sich den weißen Kleidern zu, die er heute Vormittag tragen musste, als wäre er ein leeres Blatt weißes Pergament, bis sich sein purpurroter Drache mit ihm verband.

      »Ich denke, da können wir sicher sein. Und wenn du dich schnell umziehst, schaffen wir es auch noch rechtzeitig.« Nestan fuhr sich über seinen kratzigen weißen Bart, während er sich mit der anderen Hand auf seinen Gehstock stützte. »Dein Bruder und deine Schwester warten schon auf dich.« Trotzdem rührte sich Jo noch nicht vom Fleck.

      Jos Mutter schlang einen Arm um Nestans Taille. Seine Eltern standen da und betrachteten ihn mit merkwürdigem Blick, ihr Lächeln wirkte ein wenig wacklig und gerührt.

      »Was?« Jo starrte sie an. »Haben wir es nun eilig oder nicht? Was ist los?«

      »Oh, nichts ist los, Jo!«, sagte Josi. »Wir sind einfach nur so stolz auf dich.«

      Das war ein neuer Gedanke für ihn. »Ich habe doch noch gar nichts getan.«

      »Wir sind stolz auf dich«, wiederholte sein Vater, der heftig blinzelte und sich dann räusperte: »Ganz gleich, was heute geschieht.«

      Jos Mutter wischte sich eine Träne von der Wange. »Seht mich nur an! Ich ruiniere noch den Stoff, dabei hat die Zeremonie noch nicht einmal angefangen.« Sie schniefte laut und wischte sich das Gesicht am Ärmel ihres Mannes ab.

      »Geht schon mal vor, ich komme gleich runter. Wir werden uns nicht verspäten – versprochen!« Jo wandte sich ab, um sein Gesicht zu verstecken, weil ihm gerade etwas klar wurde: Wenn heute alles gut ging, würde er mit seinen Eltern nie wieder unter einem Dach leben. Er war in Gedanken so mit seinem Drachen beschäftigt gewesen, dass er diesen Teil völlig ausgeblendet hatte. Schlagartig wurde ihm klar, dass er für all das bereit war: bereit, erwachsen zu werden und sein Elternhaus zu verlassen; bereit, seine Eltern wirklich stolz zu machen; und mit Sicherheit bereit für seinen Drachen.

      2. Kapitel

      Die Insel Arcosi war in heller Aufregung. Es ging zu wie auf einem riesigen Ameisenhügel. Glockengeläut hallte bergauf und bergab durch die steilen, gewundenen Straßen und rief alle zur Schlüpfzeremonie auf den Marktplatz in der Nähe des Hafens.

      Jo und die anderen Anwärter versammelten sich in der schattigen Straße oberhalb des Marktplatzes und warteten darauf, dass man sie rief. Unter den wachsamen Blicken von vier Drachenwächtern verabschiedeten sie sich von ihren Eltern.

      »Viel Glück, Jo«, raunte seine Mutter ihm ins Ohr, als sie ihn umarmte. Dann trat sie zurück und strich ihm die Haare glatt, die ihm, wie immer, über der Stirn vom Kopf abstanden.

      Er sah ihr an, dass sie noch mehr sagen wollte, aber er wandte sich seinem Vater zu, der in der Menge nach Isak und Tarya Ausschau hielt. Mit einem Anflug von Besorgnis bemerkte er, wie alt sein Vater aussah, als er dort auf seinem Gehstock lehnte, seine Haare leuchteten im Sonnenlicht schlohweiß.

      »Wiedersehen, Vater.« Jo kam Nestan mit einer hastigen Umarmung zuvor. »Geht lieber runter, damit eure Plätze nicht weg sind.«

      Nestan nickte. »Wir finden dich schon, hinterher

      Hinterher. Wenn er, ganz vielleicht, einen Drachen im Arm halten würde! Jo versuchte, es sich vorzustellen: ein zappelndes purpurrotes Drachenjunges in seinen Armen. Seine Aufregung wurde immer größer.

      Jo sah seinen Eltern hinterher, als sie auf dem heißen, überfüllten Marktplatz ihre Plätze suchten. Heute gab es dort keine Buden. Stattdessen saßen die Menschen in steil angeordneten Sitzreihen, als wären sie in einem Theater und warteten auf den Beginn der Vorstellung. Festliche Flaggen mit den Symbolen von Arcosi und Sartola wehten im Wind. Und genau in der Mitte lag, wie eine Bühne, ein sonnenbeschienener, kreisrunder Platz und wartete auf die Ankunft der Drachen und der Eier. Jos Magen verknotete sich vor Anspannung.

      »Jo!«

      Als er sich umdrehte, sah er seine Freunde, Amina und Conor, auf sich zustürmen, die ebenfalls in Weiß gekleidet waren. Sie mussten vor ihm angekommen sein. Er war froh, dass er mit ihnen zusammen Anwärter war.

      »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!« Das war Amina, die vor Energie nur so sprühte und sich zu ihm durchdrängte. Um den Kopf trug sie ein neues weißes Tuch, das zu ihrem weißen Gewand passte.

      »Amina!« Plötzlich kam Jo der Tag noch heller vor.

      Conor folgte etwas langsamer und versetzte ihm einen leichten Stoß. »Nur weil du Geburtstag hast, bekommst du noch lange nicht den ersten Drachen,


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