Aufstieg der Schattendrachen. Liz Flanagan

Aufstieg der Schattendrachen - Liz Flanagan


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Drachenwächter, um sie auf sich aufmerksam zu machen. »Die Eier werden bald ankommen. Es dauert nicht mehr lange: Habt Geduld und nehmt eure Plätze ein.«

      »Ha, der Teil dauert immer länger, als man denkt«, sagte Amina, die ungeduldig auf den Zehenspitzen wippte. »Das weiß ich noch von der letzten Zeremonie. Sie trauen sich nicht, die Kutsche schneller fahren zu lassen, damit die Eier nicht zu stark erschüttert werden. Wir haben also noch Zeit, dir deine Geschenke zu geben!«

      »Jetzt?«, fragte Jo. »Aber sie werden uns gleich aufrufen.« Alles andere wurde zweitrangig.

      »Nein, letztes Mal haben sie ewig gebraucht«, sagte Conor. »Alles Gute zum Geburtstag, Jo.« Er zog ein Päckchen aus der Tasche und gab es ihm. »Vorsichtig. Schneid dir nicht den Daumen ab. Ich weiß, wie ungeschickt du dich manchmal anstellst, Kumpel.«

      Jo wickelte einen weichen Lederbeutel aus. Er öffnete ihn und holte ein kleines Messer mit einem Griff aus Elfenbein heraus, in den ein Flammen speiender Drachenkopf geschnitzt war.

      »Vater und ich haben es letzten Winter auf einer Handelsreise gefunden«, sagte Conor. »Ich habe es für dich aufgehoben.«

      »Boah!« Jo testete die Klinge an seinem Daumen. »Autsch. Ist die scharf!« Ein roter Blutstropfen bildete sich.

      »Ich hab dich gewarnt, Dummi«, sagte Conor.

      »He.« Jo steckte die Klinge in die Scheide und stieß Conor mit dem Ellbogen an.

      »Er meint Danke«, sagte Amina.

      »Danke, Conor. Im Ernst.« Jo verstaute das Messer vorsichtig in der Innentasche seiner weißen Jacke.

      »Ich bin dran!«, sagte Amina, holte ein winziges Päckchen heraus, das in purpurrote Seide gewickelt war, und überreichte es Jo. Ihre Augen funkelten im Sonnenlicht wie Bernstein, und der blasse Schal betonte ihre braune Haut. Sie strahlte ihn mit ihren weißen Zähnen an, umarmte ihn hastig und sagte: »Das habe ich für dich gemacht.«

      »Danke.« Jo war gerührt. Beim Öffnen des Päckchens leuchtete ihm eine schillernde Farbenpracht entgegen. Auf einem kleinen Stoffstück war auf tiefblauem Hintergrund ein purpurroter Drache eingewebt; aneinandergereihte bunte Sechsecke bildeten den Saum.

      Schon wieder ein purpurner Drache! Wenn das kein Zeichen ist. »Das ist unglaublich«, sagte er. »Wirklich!«

      »Wann bist du so gut geworden, Amina?«, fragte Conor vornübergebeugt. Er klang beeindruckt.

      »Ich habe abends daran gearbeitet, wenn ich mit meinem Tagwerk fertig war.«

      »Das muss ewig gedauert haben!«, sagte Jo.

      Amina bekam rosige Wangen. »Das Blau habe ich mit Indigo von den Seideninseln hergestellt.« Amina kam aus einer Weberfamilie, die von dort stammte und sich einige Generationen zuvor auf Arcosi niedergelassen hatte. »Und das Rot habe ich aus Krappwurzel selbst angemischt …«

      Jo faltete das Stoffstück sorgfältig zusammen und steckte es in die Hosentasche. Der Tag wurde immer mehr zu etwas ganz Besonderem. Er wollte gern sagen, wie glücklich er war. Wie wunderbar es sich anfühlte, Freunde zu haben, die ihn so gut kannten. »Ihr beide! Es ist … ich bin … versteht ihr?« Er fand keine Worte, stand einfach nur da und grinste sie an. »Vielen Dank.«

      »Gern geschehen«, sagte Conor und grinste zurück.

      »Noch fünf Minuten!«, rief der Drachenwächter ihnen zu. »Stellt euch bitte auf!«

      Alle starrten schweigend zum Ende der Straße. Sie hatten diesen Moment geprobt. Sie wussten, wie es ablaufen würde, dennoch war das Ganze Ehrfurcht erregend.

      Sämtliche Köpfe wandten sich um und sahen der Prozession der Drachen und der Eier-Kutsche entgegen. Sie rollte langsam die breite Hauptstraße entlang, die sich wie eine Schlange um die Insel wand.

      Jo erhaschte einen Blick auf die Drachenmutter Ravenna. Sie schritt vor den Drachenwächtern her, die das Gefährt zogen. Als sie das Ende der Straße passierte, füllte sie den Durchlass vollständig aus. Jo sah ihre schwarzen gefalteten Flügel und den langen geschuppten Rücken, ihre Krallen glänzten auf dem Kopfsteinpflaster. Als spürte sie seinen Blick, wandte Ravenna den riesigen Kopf, starrte ihn aus gelben Augen an und fauchte.

      Jo schnappte nach Luft. Er hatte zwar vom Beschützerinstinkt der Drachenmütter gehört, aber es war etwas völlig anderes, wenn dieser sich gegen einen persönlich richtete.

      Doch ihm blieb keine Zeit: Die Anwärter setzten sich ebenfalls in Bewegung und folgten der Prozession die Hauptstraße hinab. Jo schaute über die Köpfe der anderen und stellte fest, dass er der Größte von allen war.

      Conor ging vor ihm, seine rotbraunen Locken zerzausten beim Gehen immer mehr. Hinter ihm kam Amina, die vor Ungeduld ganz zappelig wirkte.

      Jetzt entdeckte Jo mitten auf dem Marktplatz seinen Bruder und seine Schwester. Eigentlich waren sie seine Halbgeschwister, aber in Jos Augen gab es diesbezüglich keine halben Sachen. Er liebte beide abgöttisch.

      Sein Bruder, der oberste Drachenwächter von Arcosi, war berühmt dafür, jedes Buch in der städtischen Bibliothek gelesen zu haben. Groß und ruhig, mit weißen Haaren und schwarz umrandeten Augengläsern, stand Isak jetzt vor der Drachenmutter und ihrem abgedeckten Gelege. Sämtliche erwachsenen Drachen von Arcosi bildeten einen Kreis um sie – ein Dutzend insgesamt.

      Als Nächstes fiel Jos Blick auf seine Schwester Tarya, die neben ihrem Ehemann, Herzog Vigo, stand. Tarya war die Befehlshaberin der Armee von Arcosi. Sie hatte die Truppen in der Revolution zum Sieg geführt, in der Vigo vor dreizehn Jahren zum Herzog wurde.

      Jo fiel auf, wie müde seine Schwester aussah. Taryas wilde blonde Locken waren nach Art der Drachenreiterinnen fest an den Kopf geflochten. Sie hatte ihr Schwert umgeschnallt und trug ihre Prunkrüstung samt Armschützern. Sie war immer seine leidenschaftliche, patente Schwester gewesen, aber jetzt wirkte ihr Gesicht gräulich. Alle kannten den Grund dafür: Vor Kurzem hatte sie bekannt gegeben, dass sie ein Kind erwartete. Sie biss sich auf die Lippen, als würde sie gegen Übelkeit ankämpfen. Josi hatte ihr erklärt, dass es normal sei und sie sich bald wieder kräftiger fühlen würde. Hoffentlich musste Tarya sich nicht an Ort und Stelle übergeben – das wäre schrecklich für sie.

      Neben Tarya stand ihre Stellvertreterin und alte Freundin Rosa, zusammen mit Rosas riesigem orangefarbenem Drachen Ando. Alle gingen davon aus, dass Rosa die Heerführerin vertreten würde, während sie sich um ihr Neugeborenes kümmerte. Einige waren überrascht, dass das noch nicht geschehen war.

      »Halt!«, rief der Drachenwächter, der den Anwärtern vorausging.

      Jo und die anderen blieben direkt vor dem Marktplatz stehen. Der Herzog würde die Zeremonie jeden Moment eröffnen, und dann sollten sie hintereinander auf den Platz ziehen, um ihre Positionen einzunehmen.

      Er spürte, wie er vor Aufregung und Ungeduld am ganzen Leib zitterte.

      In diesem Moment schob sich jemand zwischen Jo und Amina, beugte sich vor und murmelte über Jos Schulter: »Du glaubst wohl, heute wäre dein Glückstag, was, Geburtstagskind?«

      Es war Noah aus Jos Gruppe in der städtischen Schule, die alle Kinder von Arcosi zumindest einige Jahre lang besuchten. Er war klein und drahtig, hatte ein schmales, sommersprossiges Gesicht und hellbraune Haare, die ihm ständig über die Augen fielen. Auch er trug die weiße Kleidung eines Anwärters.

      »Was machst du hier?« Jo wurde das Herz schwer. »Ich dachte, du hasst den Herzog und meine Schwester.«

      Noahs Vater war einer der Soldaten gewesen, die wegen der Drachen nicht mehr gebraucht wurden. Er war im letzten Jahr bei einer Straßenschlägerei getötet worden, und Noah gab Vigo und Tarya die Schuld dafür, dass sein Vater seine Arbeit, seinen Stolz und sein Leben verloren hatte.

      Jo und seine Freunde hatten sich bemüht, freundlich zu Noah zu sein, während dieser trauerte, aber er hatte es ihnen nicht leicht gemacht.

      »Na


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