Das Erbe sind wir. Michael Meyen
einer belgischen Politikwissenschaftlerin, davon aus, »dass Gesellschaften stets gespalten sind« und »durch hegemoniale Praktiken diskursiv konstruiert werden«.40 Die Geschichtspolitik, die ein bestimmtes Bild der DDR durchgesetzt hat, ist eine solche ›hegemoniale Praxis‹. Sie hilft, eine Ordnung zu stützen, die das Privateigentum vergöttert und einen Kult um das Individuum entfacht, obwohl weite Teile der Bevölkerung gar nicht die Möglichkeit haben, das auszuleben, was in ihnen steckt. Ich will nicht zu tief in die Theorie einsteigen, aber wenigstens darauf hinweisen, dass Hegemonie hier mit Antonio Gramsci als eine Form der Herrschaft verstanden wird, die neben Zwang (Polizei, Gesetze, Gerichte) auch auf Konsens setzt. Die gerade »führende Gruppe« muss »die Zustimmung der Beherrschten zu ihrem Projekt gewinnen« und von »konkurrierenden gegnerischen Gruppen« zumindest akzeptiert werden. Die Konstruktion der DDR als Diktatur hat geholfen, eine »gemeinsame Perspektive« zu finden, die zum Beispiel Enteignungen und alle sonst denkbaren ›Zwangs‹-Maßnahmen zum Wohle des Kollektivs im Moment utopisch wirken lassen.41
In diesem Kampf um Definitionsmacht sind Sozialwissenschaftler nicht Beobachter, sondern Teilnehmer.42 Wer Ideen produziert, will mitmischen. Die Öffentlichkeit (oder: »die Politik«), sagt Geoffroy de Lagasnerie, ein französischer Soziologe, »ist immer schon da«, wenn wir anfangen zu forschen – in den Gegenständen, in den Untersuchungsdesigns, in unseren Interpretationen. Es gibt die DDR des hegemonialen Diskurses, und es gibt das, was ich erlebt und längst hundertfach neu geordnet und umgedeutet habe. Durch die Brille von Geoffroy de Lagasnerie ist das kein Problem. Der »Raum des Wissens« und die Politik sind für ihn ein einziger Raum – und in diesem Raum wird gekämpft. De Lagasnerie hat auch keine Scheu, Front und Gegner zu benennen. Sein Axiom: »Die Welt ist ungerecht, die Welt ist schlecht, sie ist durchzogen von Systemen der Herrschaft, der Ausbeutung, der Macht und Gewalt, die es aufzuhalten, infrage zu stellen und zu überwinden gilt«.
Ich könnte das als Programm für dieses Buch so stehen lassen, zumal ›Wahrheit‹ für Geoffroy de Lagasnerie ein »oppositioneller Begriff« ist und »objektiv« alles, was zeigt, wie und warum eine Praxis oder eine Institution »falsch« ist (»wie sie uns schlecht behandelt, wie sie lügt und auf irrationalen Überzeugungen und Praxen beruht«).43 Die Zeiten rufen aber eher nach den ganz großen Themen und nicht nach der kleinen DDR, schon gar nicht nach dem Winzling Journalistenausbildung. Matthias Krauß, 1960 in Hennigsdorf geboren, Absolvent der Leipziger Sektion Journalistik und heute in Potsdam, hat nach einem »dreißigjährigen Privatkrieg« gegen die »Aufarbeitungsindustrie« einen »Waffenstillstand« angekündigt. Schluss mit dem Kampf gegen den »einseitigen Mainstream«. Zum einen sei alles gesagt, und zum anderen würden »möglicherweise in Kürze Dinge eintreten«, die die Debatte um die deutsch-deutsche Vergangenheit »völlig überwalzen und gegenstandslos machen werden«.44
Auch wenn hier kurz vor Corona ein Prophet zu schreiben scheint: Konkreter wird Matthias Krauß nicht, vielleicht ein Erbe aus den wenigen Jahren, die er für die Parteipresse gearbeitet hat. Andeutungen genügten damals. Im November 2019 haben Uwe Krüger und ich in Leipzig ein Seminar zu einem Text von Jem Bendell angeboten. Deep Adaptation: A Map for Navigating Climate Tragedy.45 Bendell bietet dort einen neuen Blick auf das, was er »Klimatragödie« nennt. Sein Ausgangspunkt: Es ist zu spät. Der Zusammenbruch unvermeidlich, die Katastrophe wahrscheinlich, das Aussterben nicht auszuschließen. Unser Seminar in Leipzig war großartig, weil dieser Blick jeden zwingt, existenzielle Fragen zu stellen. Was will ich im Leben? Würde ich das selbst dann noch wollen, wenn ich wüsste, dass alles vergeblich ist? Jem Bendell liefert darauf keine fertige Antwort, wie sollte er. Er referiert aber Literatur zur Resilienz (verkürzt: zum Umgang mit Schicksalsschlägen46), zum Verzicht (Dinge loslassen, die man lange geliebt hat und für selbstverständlich hielt) sowie zur Erneuerung (längst verschüttete Einstellungen und Ansätze wiederentdecken) und macht daraus eine Agenda der Anpassung an das, was er für unvermeidlich hält, und damit einen Silberstreif an einem düsteren Horizont.
Mir hat Jem Bendell geholfen. Ich schreibe hier über eine eher kleine Menschheitsfrage (Journalismus und Journalistenausbildung), fordere aber trotzdem das heraus, was wir für selbstverständlich halten (etwa: zentrale Kommunikationskanäle in Familienbesitz), und grabe nach Erfahrungen, die die Sieger der Geschichte auf den Müllhaufen geworfen haben. Journalistik, Abriss, Medienkrise: In meiner Argumentation gehören diese drei Schlagworte zusammen. Der Kahlschlag in der akademischen Journalistenausbildung in Deutschland beginnt mit dem Abriss des ›roten Klosters‹, und der Vertrauensverlust der Medien, den wir heute beobachten, hat auch damit zu tun, dass der hegemoniale DDR-Diskurs ostdeutsche Journalisten in aller Regel in Nischen verbannt und sich so lange Zeit selbst verstärkt hat.
WIE DAS DDR-GEDÄCHTNIS GERADE NEU VERMESSEN WIRD
In meiner Rezension hatte ich vermutet, dass das Buch von Matthias Krauß die eigene Blase (Märkische Allgemeine, Leipziger Volkszeitung, Junge Welt, Neues Deutschland) nur deshalb verlassen konnte, weil die Süddeutsche Zeitung auch einen Dresdner beschäftigt (Cornelius Pollmer, Jahrgang 1984).47 Diese Rezension ist im April 2019 geschrieben worden – und damit (um nur zwei Beispiele herauszugreifen für die These, die gleich folgt) vor dem Film Traumfabrik und der schon zitierten Spiegel-Sonderausgabe zu 30 Jahren Mauerfall. Es sieht im Moment so, als ob auf dem ›Kampfplatz der Erinnerungen‹ eine neue Schlacht begonnen hat. Der Historiker Martin Sabrow, 1954 in Kiel geboren und seit anderthalb Jahrzehnten einer der beiden Direktoren des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, hat 2008 drei Typen des DDR-Gedächtnisses unterschieden:
•Diktaturgedächtnis (der »Unterdrückungscharakter der SED-Herrschaft und ihre mutige Überwindung in der friedlich gebliebenen Revolution von 1989/90«): Stasi, Unrechtsstaat, Parteiherrschaft, Eiserner Vorhang, Mauerschützen, Doping (im Sport), »Verbrechen, Verrat und Versagen«, »Leid, Opfer und Widerstand«, kommunistischer Terror (von den sowjetischen Lagern in der Besatzungszeit über Schauprozesse und Militäraktionen in ganz Osteuropa bis zu den Gefängnissen und Methoden des DDR-Geheimdienstes), Missachtung von Menschenrechten und politischer Freiheit, Zwangsadoptionen, Zensur und Medienlenkung, Bürgerrechtler, Demonstrationen und Runde Tische;
•Arrangementgedächtnis (Verknüpfung von »Machtsphäre und Lebenswelt«): Freude und Leid im Alltag, Stolz auf das Erreichte (persönlich und im Betrieb, aber auch in der Gesellschaft insgesamt, gerade mit Blick auf die Bedingungen im Kalten Krieg), Zwang zur Anpassung und Ohnmacht des »kleinen Mannes«;
•Fortschrittsgedächtnis (Festhalten an der »Idee einer legitimen Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung«): »moralische und politische Gleichrangigkeit der beiden deutschen Staaten«, kommunistische Ideale wie die Brechung des Bildungsmonopols der besitzenden Klassen, die Gleichstellung der Geschlechter, Arbeit und Wohlstand für alle, Nahrung und bezahlbaren Wohnraum sowie eine Welt, in der der Mensch sich und seine Arbeitskraft nicht verkaufen muss, keinen materiellen Reichtum begehrt und keine Kriege führt.48
Als ich 2013 meine (so dachte ich damals) letzte Studie zum Thema DDR fertig hatte, ging es mir ein bisschen wie Matthias Krauß. Genug jetzt. Egal ob Schulbücher, Museen oder Leitmedien: Es dominierte Typ 1, seit 1990, Tendenz eher steigend. Typ 2 gab es noch, immerhin. Typ 3 dagegen schien langsam auszusterben.49 Und dann kam die AfD.
Im Film Traumfabrik, produziert unter anderem von Tom Zickler, drei Jahre älter als ich und ab 1988 Student an der Hochschule für Film und Fernsehen in Babelsberg, ist die DDR ein Land, in dem die Menschen zusammenhalten. In dem man sich hilft, in dem man Spaß hat (sogar mit den Russen), in dem Aufstieg von ganz unten Normalität ist und in dem man zwar um die Kontrolleure und Beobachter weiß, sich aber im Alltag nicht groß um sie schert. Jeder wird gebraucht (sogar ein farbenblinder Kameramann), jede trägt etwas bei (hier vor allem die Sekretärin und die Maskenbildnerin). Und: Familie ist wichtig. Wichtiger jedenfalls als Karriere und Partei. Ohne seinen Bruder wäre der Held ein Nichts.
Einmal regnet es in diesem Film. Einmal wird die DDR trist und grau. Das ist die DDR, wie sie die Nachgeborenen kennen. Zwei Polizisten springen aus dem Auto und prügeln mit Schlagstöcken