Radanika. Die Gefangene des Urwalds. Robert Heymann
Robert Heymann
Radanika
Die Gefangene des Urwalds
Roman
Saga
Radanika. Die Gefangene des Urwalds
© 1930 Robert Heymann
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711503706
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Zwei Zeitungsausschnitte aus letzter Zeit.
„Kriminalistische Rundschau“, 29. August 1927.
Der Höhlenknabe. — Mythus, Roman und Wirklichkeit. — Sprache der Tiere. — Ein grausames Experiment.
Von Regierungsrat Dr. Tartaruga.
Englische wissenschaftliche Blätter beschäftigen sich mit der Auffindung eines sogenannten „Wolfskindes“, das durch britische Offiziere zufällig in einer Wolfshöhle entdeckt worden sei. Der Knabe habe die sich ihm nähernden Menschen angeknurrt, habe die Zähne wie ein wildes Tier gefletscht und wütend nach seinen Rettern geschnappt. Es sei nicht leicht gewesen, den Unglücklichen unversehrt zu bändigen und in das indische Dorf Miawana zu bringen, von wo er zu Studienzwecken nach London geschafft werden soll.
Derartige Meldungen sind nicht ohne weiteres als Ausgeburten der „Sauregurkenzeit“ zu bezeichnen, denn in Indien gelten Wolfskinder keineswegs als Seltenheit. Bekanntlich hat Rudyard Kipling den jungen Maugli ebenfalls als Helden in den Mittelpunkt seines Dschungelbuches gestellt, um ihn zu einem Prachtmenschen heranwachsen zu lassen, der es vorzüglich versteht, auch mit menschlichen Bestien umzugehen. Ohne realen Hintergrund wären solche Romane naive Lächerlichkeiten. Tatsächlich gab es zu allen Zeiten in Indien verwilderte Menschen, die man wegen der dort häufigen Hungersnöte einfach schon als Kinder ausgesetzt hatte. Die meisten gingen wohl bald zugrunde, teils am Hunger oder durch Krankheit oder als Beute von Raubtieren, andere scheinen sich aber irgendwie durchgekämpft zu haben, denn schon der Reiseschriftsteller Valentine Bell berichtet im Jahre 1874 sehr ausführlich und mit Berufung auf glaubwürdige Zeugen, dass er in Agra auf einen Knaben gestossen sei, der nur auf allen vieren kriechen konnte. — Eine andere Frage ist es freilich, ob es unter den wilden Tieren — wie die Inder behaupten — Weibchen mit so stark ausgeprägten mütterlichen Instinkten gibt, dass sie ein ihnen völlig artfremdes Kind mit den eigenen Sprösslingen nähren und aufziehen. Vergleiche mit dem übrigen Tierreiche sprechen gewiss nicht dagegen. Auch beim Menschen erzeugen ja die gemeinsam ausgestandenen Sorgen die Zusammengehörigkeitsgefühle zwischen Mutter und Kind, und nicht das Blut allein. So wäre es wohl nicht undenkbar, dass eine Hündin oder Wölfin das ihr nach einem Wurf irgendwie zugewachsene, ebenfalls noch ganz junge Menschenkind wie ihre Hündlein und Wölflein betreut. Wenn die altrömische Sage Romulus und Remus durch eine Wölfin säugen lässt, so enthält sie sicherlich, wie jeder Mythus, ein Körnchen Wahrheit, d. h. die spezifisch römische Königssage muss ja nicht wahr sein, aber die prinzipielle Möglichkeit ist nicht zu leugnen.
In Indien soll es sogar ein Pantherkind gegeben haben, das von der grossen Katze in die Nordcacharberge entführt und drei Jahre lang gegen die Menschen verteidigt worden sei. Das gleiche wird von den Affenmüttern erzählt
Dass ein nach der Geburt ausgesetztes und in die Gewalt und Gesellschaft von Tieren gekommenes Menschenkind eine menschliche Sprache nicht erlernen kann, dass es sich seine Nahrung auf tierische Art suchen und vor plötzlich auftauchenden Menschen ebenso erschrecken wird wie die Tiere des Waldes, ist leicht begreiflich, immer aber wird es die ererbten menschlichen Fähigkeiten mitbringen. Eine vollständige Vertierung ist ebenso ausgeschlossen wie eine Blutvermischung mit Tieren. Ob Kreuzungen zwischen Menschen und Affen möglich sind, sieht allerdings noch aus. Gelehrte behaupten es. —
*
„B. Z.“, Mittwoch, 2. März 1929.
Weib in der Affenherde.
Seltsames Abenteuer eines Elefantenjägers.
Der Berliner Direktion von Kolonialgesellschaften, die in Afrika (es handelt sich um die frühere deutsche Kolonie Togo und um die Firma Kristeller) wieder ihre Pflanzungen betreiben, ist gestern der Monatsbericht eines Pflanzungsassistenten zugekommen, der u. a. folgenden, sehr seltsamen, als „echt afrikanisch“ bezeichneten Fall enthält: Der von der Firma angestellte schwarze Elefantenjäger schoss mitten im Urwald aus einer starken Affenherde einen besonders kapitalen Affen, der in einer Baumgabel sass. Die Kreatur fiel tot herunter.
Das Staunen des Jägers war gross, als er entdeckte, dass er nicht einen Affen aus der Herde herausgeschossen hatte, sondern ein schwarzes Weib! Sofort ging er nach Victoria, brachte den Fall selbst vor dem Distriktsobersten zur Sprache. Sämtliche Nachforschungen über die Herkunft des Weibes blieben erfolglos. Nirgends in der Gegend wurde eine Negerin vermisst. Die Negerin war übrigens ganz nackt und ohne Schmuck oder übliche Tätowierungen.
Man ist zu der Annahme gekommen, dass sie als Kind von den Affen geraubt und grossgezogen worden ist. Das Weib kann auch zu keiner Negersiedlung gehören, denn seit Jahren ist in diese verlassene Urwaldgegend kein Mensch gekommen, die jetzt von dem Elefantenjäger sozusagen erst entdeckt wurde. Der Jäger ist freigesprochen worden. Aber, abergläubisch, wie die Neger sind, hat er sich noch nicht entschliessen können, wieder auf die Jagd zu gehen. Es ist bekannt, dass bei den Negern ein altes, ungeschriebenes Gesetz besteht: „Du sollst nicht auf deine ‚Verwandten‘ schiessen.“ Gemeint sind die Affenvölker, denen sich die Schwarzen irgendwie verwandt fühlen. Der Jäger hält den Fall vielleicht für Zauberei. Die Sache ist interessant genug, denn bisher hielt man solche und ähnliche Geschichten für Film- und Schundromanphantasie oder Jägerlatein. Hier ist der Fall zum erstenmal gerichtlich beglaubigt.
1.
Aus dem tiefgrünen Vorhang der Laubgänge am Rande der Dschungeln tritt ein menschliches Wesen, schlank und schmal, jede Bewegung verhalten, geschmeidig. Ein Mädchen, bronzefarbig, seltsam weiss gefleckt — so steht es im funkelnden Gerank des Convolvus und blinzelt träge in das sinkende Licht, wie der Panther, ehe er sich aufmacht, auf Raub zu wandern. Rosenrot sinkt die Sonne. Die gelben Augen des Waldkindes folgen ihr, als könnte kein Blitz diese goldenen Sterne blenden.
Ein wundersames Geschöpf, halb Kind, halb Weib. Blauschwarz flutet das Haar über den zarten Nacken. Sie hebt das Haupt. Spannung ist der Körper. Sprungbereit sind die sehnigen Muskeln.
Ein Tier richtet sich zu ihren Füssen auf. Ein Leopard von seltsamer Schönheit und Grösse. Die dunklen Flecken um die Maulwinkel schieben sich drohend zurück. Das gewaltige Gebiss, über das selbst der königliche Tiger nicht verfügt, funkelt unter der hochgehobenen Schnauze. Senkrecht stehen die schwarzen Streifen über der gelben Iris. „Was siehst du, Maha?“ fragt das Mädchen. Eine leise, hinsingende Stimme, die der Wind entführt. Ihre kleine Hand ruht auf dem mächtigen, runden Kopf des Raubtieres. Doch die Berührung der Menschenhand beruhigt das Tier nicht. Zornig mit dem langen Schweif das Unterholz peitschend, hebt der Leopard flüchtig und warnend den Kopf zu der Gebieterin, stösst ein heiseres Miauen aus. Sein kurzer Hals ist in unruhiger Bewegung. Der geschmeidige Körper windet sich wie in unsichtbaren Fesseln. Er wendet zur Flucht, kehrt wieder zurück, unhörbar, ein Bild unheimlicher Anmut und Leichtigkeit.
Das Kind wendet die Augen in die Richtung, die die hellen Lichter ihres Begleiters nehmen.
„Maha! Du träumst! Oder spielt schon die Nacht in deinem Blut? Witterst du Beute?“
Der Leopard hebt knurrend eine Pranke. Dann umschleicht er, sein geflecktes