Ellingham Academy - Die Botschaft an der Wand. Maureen Johnson
Gedanken schweiften ab. Konnte man Mord auch so umschreiben? Als etwas im Grunde Einfaches, das sehr schnell zu Komplikationen führte?
»… die Gesamtgröße darf drei mal drei Meter nicht überschreiten und erlaubt ist nur eine einzige hydraulische …«
Wer hatte bloß diese Botschaft an ihre Wand projiziert? Und was hatte die Person damit bezwecken wollen? War es nur ein Streich gewesen? Aber wenn es Hayes oder David gewesen war und Ellie das gewusst hatte, warum hatte sie es ihr dann nicht einfach erzählt?
»… und die diesjährige Aufgabe ist es, ein Ei aufzuschlagen.«
Janelle platzierte vorsichtig ein Ei in einem kleinen Eierbecher auf einem Tisch nahe der Wand, die mit einer weißen Plastikplane abgehängt war.
»Okay.« Janelle trat wieder nach vorn. »Los geht’s!«
Sie drückte auf eine Taste an einem der Toaster, aus dem eine Sekunde später eine Plastikbrotscheibe geschossen kam. Diese prallte gegen einen kleinen Holzhebel oberhalb des Toasters, wodurch sich eine Metallkugel in Bewegung setzte und eine Reihe von Rinnen hinunterrollte, die an einer Menütafel befestigt waren. Die Kugel kullerte weiter über ein Tablett in den Händen einer Porzellanfigur in Form eines Kochs, bevor sie in eine der beiden Schalen einer Waage fiel. Dadurch erhob sich die zweite Schale und stieß eine weitere Kugel an.
Diese Maschine war Logik in reinster Form. Sie veranschaulichte, wie ein vermeintlich unwichtiger Auslöser eine riesige Abfolge von Ereignissen in Gang setzte. Die Kugel kam ins Rollen und brachte die unwahrscheinlichsten kleinen Einzelteile ins Spiel. Hayes, der ein Video über den Ellingham-Fall drehte. Janelles Chipkarte, die jemand gestohlen hatte, um an das Trockeneis zu gelangen. Die Botschaft an Stevies Wand. Hayes, der am Drehtag in letzter Sekunde kehrtmachte, angeblich, weil er etwas vergessen hatte, und dann nie wieder auftauchte. Stevie, die dahinterkam, dass Ellie Hayes’ Serie geschrieben hatte. Ellie, die durch eine Wand im Tunnel verschwand und darin sterben sollte.
Eine dritte Kugel wurde auf die Reise geschickt und knallte gegen einen Tassenstapel, der in den Limonadenspender kippte. Aus Letzterem strömte daraufhin Flüssigkeit in drei Plastikkaraffen, deren Gewicht wiederum als Auslöser diente für …
Stevie blinzelte erschrocken, als drei Paintball-Gewehre gleichzeitig auf das Ei feuerten, das in einer spektakulären Explosion aus Rot, Blau, Gelb und durchsichtigem Glibber zu Bruch ging.
Vi sprang jubelnd auf und fiel Janelle um den Hals.
»Gar nicht schlecht«, befand Nate.
Stevie nickte abwesend. Na klar, sie hatte verpasst, was den Schuss ausgelöst hatte! Es musste irgendetwas direkt vor ihrer Nase gewesen sein, aber sie sah es einfach nicht. Wo sucht man den, der nie wirklich ist da …
Wenn im ersten Akt eine Waffe eingeführt wurde, dann konnte man davon ausgehen, dass sie irgendwann zum Einsatz kam. Meistens im dritten Akt.
Das war eine der wichtigsten Lektionen, die ein Kriminalermittler lernte: Lass niemals die Waffe aus den Augen.
4. April 1936
Dottie Epstein hatte gar nicht vorgehabt, Francis und Eddie nachzuspionieren. Sie hatte lediglich mit ihrem Buch hoch oben in einer Astgabel gehockt, dick eingemummelt in einen braunen Wollpullover, den ihr ihre Tante Gilda gestrickt hatte. Jetzt im April war es zwar noch nicht sonderlich warm hier oben, aber immerhin herrschte auch kein Dauerfrost mehr und man konnte sich wieder freier bewegen.
Es tat gut, durch den Wald zu streifen und die frische Luft einzuatmen. Dieser Baum war einfach genau der richtige Ort, um sich ungestört den Abenteuern von Iason und seinen Argonauten zu widmen.
Und so saß sie da, mäuschenstill und von unten nicht auszumachen, als Francis und Eddie vorbeikamen. Sie hielten einander eng umschlungen und steckten im Gehen die Köpfe zusammen. (Ein Wunder, dass die beiden überhaupt so laufen konnten. Dottie staunte, als bekäme sie ein Zirkuskunststück präsentiert.) Selbst die Art, wie sie gingen, hatte etwas Besonderes an sich – schweigend, lächelnd, rasch, aber nicht gehetzt. Alles deutete darauf hin, dass sie nicht bemerkt werden wollten.
Anders als die anderen reichen Mädchen war Francis meistens nett zu Dottie. Kein Vergleich zu Gertie van Coevorden, die sie stets so angewidert musterte, als wäre sie ein wandelnder Lumpenhaufen, und ihren Blick betont langsam von einer geflickten Stelle in ihrer Kleidung zur nächsten wandern ließ. (Dabei hatte Dotties Mutter sich solche Mühe dabei gegeben, ihren Mantel zu reparieren. »Schau mal, Dot, man kann die Naht kaum erkennen! Dieses Garn passt wirklich perfekt, das hab ich bei Woolworth entdeckt. Sieht aus wie neu, findest du nicht? Ich hab die ganze Nacht daran gesessen.«) Unter Gerties Blick jedoch stachen die Nähte ihrer Mutter überdeutlich hervor – ihre schmalen blauen Augen schienen Dotties Familie zu verurteilen, ihre Daseinsberechtigung infrage zu stellen. »Ach, Dottie, du armes Ding!«, stieß sie dann hervor. »Ist dir nicht furchtbar kalt? Wolle ist ja leider längst nicht so warm wie Pelz. Ich habe irgendwo noch einen alten Nerz, den du dir ausborgen kannst.«
Es wäre etwas anderes gewesen, wenn Gertie ihr den Mantel tatsächlich geliehen hätte. Aber so lief das Spiel nicht. Leute wie sie erwähnten solche Dinge vollkommen beiläufig und dann vergaßen sie das Ganze wieder. Damit es besonders wehtat.
Francis dagegen war wirklich nett. Sie ließ Dottie in Ruhe und damit war diese vollauf zufrieden. Wenn sie mal miteinander redeten, was nicht häufig vorkam, dann über interessante Sachen wie Detektivgeschichten. Francis las beinahe genauso gern wie Dottie selbst und ihre Leidenschaft galt jeder Art von Verbrechen, was Dotties Ansicht nach ein äußerst sinnvolles Thema war. Und außerdem teilte Francis ihren Hang zu Heimlichtuereien. Oft hörte Dottie mitten in der Nacht Geräusche aus Francis’ Zimmer, und wenn man dann durch den Türspalt lugte, sah man sie den Flur hinunterschleichen oder aus dem Fenster klettern.
Dieser letzte Punkt war es, der Dottie jetzt dazu trieb, sich wie ferngesteuert aus ihrem Baum gleiten zu lassen und den beiden in sicherem Abstand zu folgen. Vielleicht, überlegte sie, hatte sie das ja von ihrem Onkel, dem Polizisten. »Manchmal hat man einfach so ein Gefühl, Dot«, hatte er mal zu ihr gesagt. »Hör immer auf deinen Instinkt.«
Francis und Eddie hielten auf den wilderen, naturbelassenen Bereich im hinteren Teil des Schulgeländes zu, wo sich lediglich ein paar schmale Pfade durch den Wald schlängelten. Sie gingen in Richtung der Stelle, wo der Berg immer noch weiter abgetragen wurde. Dort lagen riesige Felsblöcke, die offenbar in kleinere Stücke zerschlagen und dann als Baumaterial verwendet wurden. Der Weg war uneben und führte steil bergauf. Dottie folgte ihnen so lautlos wie möglich und griff immer wieder nach Baumstämmen und Wurzeln, um sich den felsdurchsetzten Hang hochzuziehen. Francis und Eddie vor ihr waren zwei Farbkleckse in der Landschaft und dann – waren sie verschwunden.
Einfach so. Urplötzlich. Verschluckt von Bäumen, Felsen und Unterholz.
Sie mussten in einen von Mr Ellinghams Schlupfwinkeln abgetaucht sein, den Dottie selbst noch nicht entdeckt hatte. Ein Kampf zwischen ihrer Angst, erwischt zu werden, und ihrer Neugier trug sich in ihrem Innern aus. Kurz dachte sie darüber nach, einfach an ihr Leseplätzchen zurückzukehren, aber ihr war klar, dass sie das nicht übers Herz bringen würde. Also ging sie ein Stück zurück bis zu einem Punkt, an dem sie die beiden mit Sicherheit noch gesehen hatte, und versteckte sich hinter einem Baum.
Sie wartete über zwei Stunden. Tatsächlich war sie schon längst wieder in ihr Buch vertieft, als sie plötzlich Schritte hörte und sich gerade noch rechtzeitig ducken konnte. Flüsternd und lachend eilten die beiden an ihr vorbei. Francis hatte eine Tasche dabei und trug ein Buch unter dem Arm.
»Wir sind spät dran«, hörte sie Francis sagen. »Das gibt Ärger. Schnell jetzt.«
»Einmal noch, im Stehen am Baum, wie die Tiere …«
»Eddie …« Francis schob ihn kichernd von sich und huschte weiter. Bei dem Gerangel