Ellingham Academy - Die Botschaft an der Wand. Maureen Johnson

Ellingham Academy - Die Botschaft an der Wand - Maureen  Johnson


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und steckten sie um das Baby fest, während Flora ungläubig auf das winzige Menschlein hinabblinzelte, das sie geboren hatte.

      »Mein Gott«, staunte sie. »Hab das wirklich ich zustande gebracht?«

      »Ja, und du hast dich ganz hervorragend geschlagen«, erwiderte Iris und strich ihrer Freundin das feuchte Haar zurück. »Liebes, du warst großartig. Absolut großartig.«

      »Kann sie noch einen Moment bei mir bleiben?«, bat Flora. »Bitte?«

      »Das ist eine gute Idee«, schaltete sich eine der Schwestern ein. »Dass Sie die Kleine im Arm halten. Sie wird bald trinken wollen. Wenn Sie vielleicht noch einmal hinausgehen könnten, Herr und Frau Ellingham? Nur ganz kurz.«

      Iris und Albert zogen sich zurück. Leo war wieder unten, also hatten sie den Flur für sich.

      »Über den Vater hat sie immer noch nichts gesagt, oder?«, raunte Albert. »Ich dachte, vielleicht würde sie es ja während…«

      »Nein«, flüsterte Iris.

      »Macht nichts. Macht überhaupt nichts. Wir werden schon mit ihm fertig, sollte er sich jemals melden.«

      Die Schwester trat zu ihnen nach draußen, in der Hand ein Klemmbrett mit einem offiziell aussehenden Formular.

      »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Haben Sie schon einen Namen für das Kind?«

      Albert sah Iris an, die ihm zunickte.

      »Alice«, antwortete Albert. »Sie heißt Alice Madeline Ellingham. Und sie wird das glücklichste kleine Mädchen auf der ganzen Welt sein.«

      AUSZUG AUS DER WAHRHAFTIGE LÜGNER: MORD AN DER ELLINGHAM ACADEMY VON DR. IRENE FENTON

      Kein einziges Mal seit der Entführung seiner Frau und seiner Tochter und dem Mord an Dolores Epstein unterbrach Albert Ellingham seine Suche. Weder der Prozess gegen Anton Vorachek noch dessen Ermordung vor dem Gerichtsgebäude konnten ihn davon abhalten, obwohl es damals den Anschein machte, als wäre mit Vorachek der einzige Mensch gestorben, der Alice’ Aufenthaltsort kannte. Irgendjemand musste irgendetwas wissen. Albert Ellingham scheute keine Kosten und Mühen. Er trat in Radiosendungen auf. Sprach mit Politikern. Er ließ nichts unversucht, wenn es schien, als könnte jemand auch nur den geringsten Hinweis darauf haben, wo seine Tochter war.

      Am 1. November 1938 suchten Polizei und FBI Lake Champlain nach Albert Ellingham und George Marsh ab. Die beiden hatten einen nachmittäglichen Segeltörn mit Alberts Jacht, der Wonderland, unternommen. Kurz vor Sonnenuntergang hatte eine gewaltige Explosion die abendliche Stille zerrissen. Die ansässigen Fischer sprangen sofort in ihre Boote. Als sie die Unglücksstelle erreichten, fanden sie nur noch Trümmer der Jacht – verkohltes Holz, angesengte Polster, kleine Messingteile, Seilstücke. Doch sie stießen auch auf etwas weit Verstörenderes: menschliche Überreste, die offenbar in die Luft geschleudert worden waren und sich im selben traurigen Zustand befanden wie das Boot. Weder Albert Ellinghams noch George Marshs Leiche sollte je vollständig geborgen werden. Allerdings fand man genügend Einzelteile, um die Gewissheit zu haben, dass beide Männer tot waren.

      Ermittlungen wurden eingeleitet. Jeder hatte seine eigene Theorie über den Tod eines der reichsten und einflussreichsten Männer Amerikas, doch am Ende wurde niemand verurteilt. Die plausibelste Erklärung schien es zu sein, dass eine Bande von Anarchisten Albert Ellingham auf dem Gewissen hatte; und tatsächlich bekannten sich gleich drei verschiedene Splittergruppen der Tat schuldig. Alice’ Fall geriet nach Albert Ellinghams Tod weitgehend in Vergessenheit. Es gab keine väterliche Stimme mehr, die ihren Namen am Leben hielt, keinen Industriemagnaten, der mit saftigen Belohnungen winkte und sich die Finger wund telefonierte. Im Jahr darauf brach in Europa der Krieg aus und die herzzerreißende Geschichte der Familie auf dem Berg verblasste im Angesicht einer ungleich schlimmeren Tragödie.

      Dutzende von Frauen, die sich als Alice Ellingham ausgaben, traten im Laufe der Jahre an die Öffentlichkeit. Manche konnten gleich zu Anfang als Hochstaplerinnen entlarvt werden – sei es durch das falsche Alter oder nicht übereinstimmende körperliche Merkmale. Alle, die dieses erste Aussiebverfahren bestanden hatten, wurden zu Robert Mackenzie vorgelassen, Alberts Privatsekretär. Mackenzie stellte gründlichste Untersuchungen an und jedes Mal erwiesen sich die Behauptungen als frei erfunden.

      Erst in den vergangenen Jahren begann das Interesse an dem Fall wieder anzusteigen – nicht nur an der Frage, was aus Alice geworden war, sondern auch an ihrer Entführung und jenem verhängnisvollen Tag auf dem Lake Champlain. Fortschritte auf dem Feld der DNA-Analyse und moderne Ermittlungstechniken könnten die Lösung nun abermals in greifbare Nähe rücken.

      Gut möglich, dass Alice Ellingham doch noch gefunden wird.

      DOZENTIN STIRBT BEI BRAND

      Burlington News Online

      4. November

      Gestern Abend ist Dr. Irene Fenton, Dozentin an der University of Vermont, bei einem Feuer in ihrem Wohnhaus in der Pearl Street ums Leben gekommen. Dr. Fenton gehörte seit zweiundzwanzig Jahren der Fakultät für Geschichte an und hat in dieser Zeit mehrere Bücher veröffentlicht. Zu ihren Werken zählt unter anderem Der Wahrhaftige Lügner: Mord an der Ellingham Academy. Vermutlich brach der Brand gegen neun Uhr in ihrer Küche aus.

      Dr. Fentons Neffe, der bei ihr lebte, hat lediglich leichte Verletzungen davongetragen. […]

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      1

      Nackt und kreideweiß lagen die Knochen auf dem Tisch. Die Augenhöhlen starrten ins Leere und der Mund war zu einem lässigen Grinsen verzogen, als wollte er sagen: »Jepp, ich bin’s. Ihr fragt euch sicher, wie ich hier gelandet bin, was? Ist ’ne witzige Geschichte, das könnt ihr mir glauben …«

      »Wie ihr seht, fehlt Mr Nelson der Mittelhandknochen des rechten Daumens. Als er noch am Leben war, hatte er natürlich –«

      »Eine Frage«, unterbrach sie Mudge, noch bevor sein Arm ganz erhoben war. »Wie ist der Typ eigentlich zum Skelett geworden? Ich meine, warum ist er hier? Hat er gewusst, dass er mal an einer Schule landen würde?«

      Pix, oder genauer: Dr. Nell Pixwell – Anatomielehrerin, forensische Anthropologin und Hauslehrerin von Minerva –, schwieg einen Moment. Ihre und Mr Nelsons Hände lagen locker ineinander, als hätte sie ihm soeben schüchtern einen Tanz auf einem großen Ball versprochen.

      »Unser Mr Nelson«, erklärte sie dann, »wurde der Schule bei ihrer Eröffnung gestiftet, ich glaube, von einem Freund Albert Ellinghams, der Verbindungen nach Harvard hatte. Dass Leichen zu Anschauungszwecken genutzt werden, kann auf ganz unterschiedliche Arten zustande kommen. Manche Menschen spenden ihren Körper zum Beispiel der Wissenschaft. Könnte auch hier so gewesen sein, aber da hab ich so meine Zweifel. Den Materialien und Techniken nach zu urteilen, mit denen seine Gelenke rekonstruiert wurden, würde ich vermuten, dass Mr Nelson aus dem späten achtzehnten Jahrhundert stammt. Damals herrschten in Bezug auf so was noch etwas lockerere Sitten. Oft hat man auf die Leichen von Gefängnisinsassen zurückgegriffen. Mr Nelson hier scheint wohlgenährt gewesen zu sein. Er war groß und hatte noch sämtliche Zähne, was für die damalige Zeit ziemlich ungewöhnlich ist. Keinerlei gebrochene Knochen. Mein Tipp ist – aber das ist wirklich nur geraten –«

      »Grabräuber?«, fiel Mudge ihr eifrig ins Wort. »Glauben Sie, er wurde ausgebuddelt?«

      Mudge, der fast zwei Meter groß und Stevie Bells Laborpartner war, hatte eine Vorliebe für Death Metal und lila Schlangenaugenkontaktlinsen. Seinen schwarzen Hoodie zierten sicher rund fünfzig Disney-Anstecker, von denen einige überaus seltene Sammlerstücke waren, wie er Stevie nur zu gern erklärte, wenn sie im Dienste der Bildung mal wieder Kuhaugen und andere unaussprechliche Dinge sezierten. Mudge war der größte Disney-Fan der Welt und träumte davon, irgendwann als Animatronik-Entwickler dort zu arbeiten. Da lag es nur nahe, dass er an der Ellingham Academy gelandet war, an der man Leute wie Mudge verstand


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