Ellingham Academy - Die Botschaft an der Wand. Maureen Johnson

Ellingham Academy - Die Botschaft an der Wand - Maureen  Johnson


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großer Bedarf an Studienobjekten. Darum gab es damals professionelle Leichendiebe, die Tote ausgegraben und an Medizinstudenten verkauft haben. Und wenn Mr Nelson schon damals in Harvard als Anatomiemodell gedient hat, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass er ein gestohlener Leichnam war. Dabei fällt mir ein, dass ich ihn dringend mal auf Kur schicken muss. Er braucht einen neuen Mittelhandknochen und außerdem muss hier, zwischen Haken-, Dreiecks- und Kopfbein, unbedingt mal der Draht geflickt werden. Das Leben ist hart, selbst für die Toten.«

      Ein kleines Grinsen huschte über ihr Gesicht, bevor sie schlagartig wieder ernst wurde und sich über den Flaum auf ihrem Kopf rieb.

      »Äh ja, so viel also zum Thema Mittelhand«, fuhr sie fort. »Dann wollen wir uns mal noch ein paar andere Knochen anschauen …«

      Stevie war klar, warum Pix so schnell das Thema gewechselt hatte. Die Ellingham Academy war kein Ort mehr, an dem man Witze über den Tod reißen konnte.

      Als Stevie nach der Stunde das Gebäude verließ, versetzte ihr die eisige Luft eine regelrechte Ohrfeige. Der Vermonter Wald hatte seinen spektakulären rotgoldenen Mantel so jäh abgeschüttelt, dass es wirkte, als hätten die Bäume einen Massenstriptease veranstaltet.

      Sie gähnte. Gott, war sie müde.

      Draußen wartete Nate Fisher auf sie. Mit krummem Rücken hockte er auf einer Bank und scrollte auf seinem Handy herum. Da es nun langsam kälter wurde, konnte er sich fröhlich – oder was bei Nate eben als fröhlich durchging – in übergroße Pullover, schlabbrige Cordhosen und endlos lange Schals hüllen, bis er ein wandelnder Haufen aus Natur- und Kunstfasern war.

      »Wo warst du denn?«, lautete seine Begrüßung.

      Er drückte ihr einen Becher Kaffee und einen Ahornsirup-Donut in die Hand. Zumindest ging Stevie stark davon aus, dass der Donut mit Ahornsirup war, da konnte man sich in Vermont relativ sicher sein. Sie nahm einen großen Schluck Kaffee und biss in den Donut, bevor sie antwortete: »Ich musste nachdenken. Darum bin ich vor dem Unterricht noch ein bisschen herumgelaufen.«

      »Die Klamotten hattest du gestern schon an.«

      Stevie blickte verwirrt an sich hinunter auf ihre schwarzen Chucks, die ausgeleierte Jogginghose, das ebenso ausgeleierte Sweatshirt und ihren dünnen roten Lackregenmantel.

      »Hab drin geschlafen«, erklärte sie, begleitet von einem Regen aus Donutkrümeln.

      »Du hast seit zwei Tagen nicht mehr mit uns zusammen gegessen und die meiste Zeit hab ich keine Ahnung, wo du dich herumtreibst.«

      Das stimmte. Sie war ewig nicht mehr mit den anderen im Speisesaal gewesen und hatte ihren Hunger, der sie meistens mitten in der Nacht überkam, stattdessen mithilfe der Minerva-Frühstücksvorräte gestillt. Dann stand sie im Dunkeln an der Küchentheke, wo sie kauend die Hand unter den Froot-Loops-Spender hielt und die nächste Portion hineinrieseln ließ. Am Tag zuvor, meinte sie sich vage zu erinnern, hatte sie sich irgendwo eine Banane organisiert und sie auf dem Boden der Bibliothek hockend vertilgt, verborgen hinter hohen Regalen. In letzter Zeit hatte sie Menschen, Gespräche und sogar ihr Handy bewusst gemieden und sich nahezu komplett in die Welt ihrer Gedanken zurückgezogen, denn davon gab es jede Menge und sie mussten dringend geordnet werden.

      Grund für dieses rastlose Einsiedlerdasein waren drei Vorkommnisse.

      Erstens hatte David Eastman, ihr Vielleicht-Freund, sich in Burlington zusammenschlagen lassen. Mit voller Absicht – er hatte sogar jemanden dafür bezahlt. Anschließend hatte er ein Video der Aktion ins Internet gestellt und war spurlos verschwunden. David war der Sohn von Senator Edward King, der Stevie die Rückkehr an die Ellingham Academy ermöglicht hatte, und zwar unter der Voraussetzung, dass sie David im Zaum hielt.

      Das war mal gründlich in die Hose gegangen.

      Zweitens war in derselben Nacht Stevies Mentorin, Dr. Irene Fenton, bei einem Hausbrand ums Leben gekommen. Nicht dass Stevie und Fenton – wie sie am liebsten genannt wurde – sich sonderlich nahegestanden hatten, aber ein Schock war es natürlich trotzdem gewesen. Das einzig Gute war, dass der Brand sich nicht hier, sondern in Burlington ereignet hatte und Fenton in den Nachrichten lediglich als Dozentin der University of Vermont beschrieben wurde. Was bedeutete, dass die Sache nicht mit der Ellingham in Verbindung gebracht wurde, denn einen weiteren Todesfall würde die Schule wohl kaum überstehen. In einer Welt, in der alles ausschließlich und unweigerlich schiefzugehen schien, musste Stevie diese Tatsache wohl als einen der wenigen positiven Aspekte ihres verwirrenden neuen Lebens werten. Was eine grauenhaft egoistische Sichtweise war, das war ihr klar, aber sie musste pragmatisch bleiben. Wer Verbrechen aufklären wollte, durfte sich den Verstand nicht von Emotionen vernebeln lassen.

      Und als wäre das alles nicht schon genug zu verarbeiten …

      »Meinst du nicht, wir sollten uns mal unterhalten?«, fragte Nate. »Über das, was hier alles passiert ist? Darüber, wie es jetzt weitergehen soll?«

      Gute Frage. Wie sollte es jetzt eigentlich weitergehen?

      »Komm«, sagte sie knapp.

      Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte los, weg vom Gebäude, weg von den Leuten, weg von den zahllosen Kameras an Bäumen und Laternenmasten. Zum einen, um sicherzugehen, dass sie nicht belauscht wurden, und zum anderen, damit niemand sah, wie hemmungslos sie diesen Donut verschlingen würde. Sie hatte einen Mordshunger.

      »If happf gepfafft«, nuschelte sie mit vollem Mund.

      »Du hast gepafft? Seit wann rauchst du denn?«

      Stevie schluckte den riesigen Donutbissen hinunter.

      »Ich hab’s geschafft«, wiederholte sie. »Ich hab den Ellingham-Fall aufgeklärt.«

      »Ich weiß«, sagte er. »Genau darüber müssen wir ja reden. Darüber und über das Feuer und tausend andere Sachen. Oh Mann, Stevie.«

      »Es passt alles ins Bild«, erklärte sie, während sie langsam weiterging. »George Marsh, dieser Mann vom FBI, der die Ellinghams eigentlich hätte beschützen sollen … der den Grundriss des Hauses kannte, die Gewohnheiten der Familie, sämtliche Abläufe … der wusste, wann das Geld kam … der hätte mit Leichtigkeit eine Entführung arrangieren können. Willst du wissen, wie genau es sich abgespielt hat?«

      Sie packte Nate locker am Arm und dirigierte ihn in Richtung der Villa, die das Herzstück des Schulgeländes bildete. In den Dreißigerjahren hatte darin Albert Ellingham mit seiner Familie gewohnt. Heute beherbergte sie die Schulverwaltung und wurde oft für Feste und andere Veranstaltungen genutzt. Wie ferngesteuert ging Stevie auf ein Tor in der Mauer zu und öffnete es. Dahinter lag der sogenannte versunkene Garten, dessen Bezeichnung von einem künstlich angelegten See herrührte, der Iris Ellingham einst als übergroßes Schwimmbecken gedient hatte. Nach dem Verschwinden seiner Tochter hatte Albert Ellingham das Wasser abpumpen lassen, weil jemand ihm weisgemacht hatte, auf dem Grund läge ihre Leiche. Zwar hatte sich diese Behauptung nicht bewahrheitet, aber den See ließ er trotzdem nie wieder befüllen. Alles, was übrig blieb, war eine riesige, grasüberwucherte Grube mit einem seltsamen kleinen Hügel in der Mitte, der einst eine Insel gewesen war. Auf dieser Insel befand sich ein runder Bau mit einem kuppelförmigen Glasdach – das Observatorium. Dort hatte Dottie Epstein ihr Schicksal ereilt, genau wie, mehrere Jahrzehnte später und ein Stück darunter, Hayes Major.

      »Also« – Stevie zeigte auf die Insel – »Dottie Epstein sitzt im Observatorium und liest ganz in Ruhe ihren Sherlock Holmes. Plötzlich taucht ein Mann auf. George Marsh. Beide haben nicht miteinander gerechnet. Und von allen Schülerinnen der Ellingham musste Marsh ausgerechnet auf die cleverste treffen, diejenige mit einem Onkel bei der New Yorker Polizei. Dottie kennt Marsh und damit ist sein ganzer schöner Plan ruiniert. Dottie ahnt, dass etwas Schlimmes passieren wird, also hinterlässt sie eine Markierung in ihrem Buch, bemüht sich, so deutlich wie möglich zu machen, wen sie vor sich hat. Und dann stirbt sie. Aber am Ende gelingt es ihr tatsächlich, ihren Mörder auffliegen zu lassen. Und wenn wir jetzt mal kurz vorspulen …«

      Stevie wandte sich zur Villa um, zu der Steinterrasse und den Glastüren,


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