Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman. Helen Perkins
hatte nichts mit dem Weggang von Körner zu tun!« Berger schien kurz davor, die Fassung zu verlieren. »Es war nicht meine Schuld, dass er ein Problem mit berechtigter Kritik hatte. Und was Frau Rohde betrifft …«
»Schluss damit, Herr Berger! Ich lasse mich auf keine weiteren Diskussionen mit Ihnen ein. Sie haben zehn Minuten, um Ihre Sachen zusammenzupacken. Sollten Sie dann nicht verschwunden sein, rufe ich persönlich nach dem Sicherheitsdienst, damit er Sie vor den Augen aller Kollegen aus dem Haus führt. Ich glaube nicht, dass Sie das wollen.«
Bei Daniels Worten brach Bergers selbstgefällige und großspurige Fassade zusammen. Er sah aus wie jemand, dem alles genommen wurde. Verzweifelt sah er sich in seinem Büro um.
»Nicht, machen Sie das bitte nicht«, bat er plötzlich. »Das hier ist alles, was ich habe. Bitte … nehmen Sie es mir nicht weg … Ich weiß doch nicht, was ich …« Seine Stimme gehorchte ihm nicht mehr, und er stoppte. So leise, dass Daniel es kaum verstehen konnte, flehte er: »Bitte … Ich muss arbeiten … Bitte …«
Mitleid überflutete Daniels Herz. Vor ihm stand ein Mann, den ein großer Kummer quälte. Daniel wusste längst, dass sich hinter einer Mauer aus Stahl ein empfindsames Herz verbarg. Seit Langem wartete er darauf, dass sich Berger endlich öffnen würde. Ob dies der richtige Augenblick dafür war?
»Was ist los mit Ihnen?«, fragte Daniel einfühlsam. »Warum bedeutet Ihnen die Aufnahme so viel, dass Sie es nicht fertigbringen, ein paar Tage wegzubleiben? Reden Sie mit mir!«
Erik rieb sich über die Augen und atmete ein paar Mal tief durch. Als er dann sprach, hatte er bereits einen Teil seiner Beherrschung wiedergefunden. »Ich brauche keinen Urlaub«, entgegnete er wieder einigermaßen gefasst. »Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich … Ich möchte einfach nur meine Arbeit machen. Das ist alles.«
Daniel wartete darauf, dass Berger weitersprach. Als das nicht geschah, nickte er. »Also gut, Herr Berger. Dann bleibt es dabei. In zehn Minuten beginnt Ihr Urlaub!«
Daniel verließ Bergers Büro und schloss energisch die Tür hinter sich. Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen die kühle Flurwand. Dieses Gespräch mit Berger hatte ihn aufgewühlt. In ihm schrie alles danach, umzukehren und seine Worte zurückzunehmen. Aber er wusste, dass das nicht ging. Nicht nur, weil er damit seine eigene Autorität untergraben würde, sondern auch, weil das eigentliche Problem dann immer noch im Raum stand: Dr. Berger musste unbedingt Urlaub nehmen.
Daniel stieß sich von der Wand ab und ging zum Fahrstuhl hinüber. Als er an Katja Baumann dachte und an ihr Entsetzen, als sie erfahren hatte, dass Berger in den Urlaub sollte, fing er an zu grübeln. Seine kluge Assistentin schien den Notarzt wirklich gut zu kennen. Sie hatte gewusst, wie schwer es ihm fallen musste, der Aufnahme fernzubleiben. Und auf einmal überkamen Daniel Zweifel. Hatte er womöglich einen Fehler gemacht? Wäre es für Bergers Seelenheil vielleicht besser, täglich zur Arbeit zu kommen? Wie würde es ihm in seiner ungeliebten Zwangspause ergehen?
*
Samstagabend war Erik Bergers Gemütszustand an einem Tiefpunkt angekommen. Er saß in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa und starrte verdrossen auf den Fernseher, der ihn schon lange nicht mehr fesseln konnte. Vor ihm, auf dem kleinen Tisch, lagen leere Pizzakartons und ein paar ausgetrunkene Bierflaschen. Sie waren das Resultat der vergangenen beiden Tage. Die Wodkaflasche, die danebenstand, war noch verschlossen. Er hatte sie nicht angerührt, obwohl er nur schwer der Versuchung, seinen Kummer mit Alkohol zu betäuben, widerstanden hatte. Doch er wusste, dass der Wodka ihm nicht helfen würde. Damals – nach dem Tod seiner Frau und seines ungeborenen Sohnes – hatte Erik geglaubt, dass es keine andere Lösung geben könnte, um mit dem Verlust fertigzuwerden. Schnell hatte er dann festgestellt, dass das nur eine trügerische Illusion gewesen war. Nach der kurzen Zeit des Rauschs und des Vergessens war der Schmerz mit doppelter Kraft zurückgekehrt und hatte ihn fast umgebracht. Irgendwann hatte er es dann akzeptiert, dass seine geliebte Maika nicht mehr an seiner Seite war, und es war leichter für ihn geworden, damit klarzukommen. Eine bessere, stärkere Droge als Alkohol hatte ihm dabei geholfen: seine Arbeit.
Wenn er in der Notaufnahme seinen Dienst verrichtete, Menschenleben rettete und Hoffnung schenkte, vergaß er, was er verloren hatte und noch immer vermisste. Nur mit seiner Arbeit als Arzt schaffte er es, den Tag zu überstehen, ohne vor Verzweiflung und Trauer durchzudrehen.
Doch Dr. Daniel Norden, der Chefarzt der Behnisch-Klinik, hatte ihm das genommen. Zwei Wochen Zwangsurlaub! Erik schüttelte frustriert den Kopf. Er wusste nicht, wie und ob er das überstehen würde. Und schon wieder wanderten seine Gedanken zurück zu jenem Abend, als er nach einem langen Dienst nach Hause kam und Maika leblos vorgefunden hatte. Sie war ganz allein, ohne jeden Beistand, an einer heimtückischen Krankheit gestorben. Er würde sie nie wiedersehen und seinen kleinen Jungen nie kennenlernen.
Es war kurz vor elf, als er den Fernseher ausschaltete und aufsprang. Er musste irgendetwas tun. Irgendetwas, was ihn ablenkte und beschäftigte. Fünf Minuten später fand er sich auf der Straße wieder. Ein kalter Märzwind blies ihm entgegen und verriet, dass sich die milden Frühlingsnächte erst noch durchsetzen mussten. Erik überlegte, ob sein Griff zur Lederjacke wirklich so eine gute Idee gewesen war. Sie wärmte ihn nur unzureichend. Tief vergrub er seine Hände in den Taschen und marschierte zügig los. Die Bewegung würde ihn nicht nur müde machen, sondern auch für die nötige Körpertemperatur sorgen. Und vielleicht würde es ihm nach einem sehr, sehr langen Spaziergang durch das nächtliche München sogar gelingen, ein paar Stunden zu schlafen, ohne von Albträumen geweckt zu werden.
Schnell hatte Erik die ruhige Wohngegend, in der er lebte, verlassen und die City erreicht. In dieser Samstagnacht waren auf den Straßen viele Menschen unterwegs. Die meisten von ihnen waren gut gelaunte Partygänger, die sich amüsieren wollten. In ihrer fröhlichen Ausgelassenheit hatten sie für den griesgrämigen Mann, der mit gesenktem Kopf und hochgeschlagenem Jackenkragen vorbeihastete, nur einen flüchtigen Blick übrig.
Nach einer guten Stunde zog ein vertrautes, schmerzhaftes Ziehen durch Eriks Oberschenkel. Ein Erschöpfungsschmerz, den er mit einem freudlosen Grinsen willkommen hieß. Wenn er dieses rasante Tempo beibehielt und keine Pause einlegte, würden die Muskelschmerzen so stark werden, dass er seinen ewigen Herzschmerz um sein verlorenes Glück nicht mehr spüren konnte.
Sein rastloser Gang durch die Nacht wurde jäh unterbrochen, als vor ihm die Tür eines Nachtclubs aufgerissen wurde und drei betrunkene Gäste auf den Bürgersteig torkelten. Widerwillig stoppte Erik, um nicht mit ihnen zusammenzustoßen. Die warme Luft des Clubs schlug ihm ins Gesicht, und er verspürte auf einmal den Drang hineinzugehen, um sich aufzuwärmen und von dem lauten Rhythmus der Musik betäuben zu lassen.
Schon im Foyer des Clubs bereute er diesen spontanen Einfall. Und als er den großen Clubraum durchquerte, um zur Bar zu gelangen, wusste er, dass ihn die vielen Pärchen nur daran erinnern würden, was er so sehr vermisste. Die lachenden, fröhlichen Menschen, die ausgelassen zur lauten Musik tanzten, ließen ihn seinen Verlust qualvoll spüren.
»Was darf’s sein?«, rief ihm der Barkeeper zu, der Mühe hatte, das Dröhnen der Beats zu übertönen. ›Sunny‹, las Erik auf seinem Namensschild. Er musste grinsen. Dieser Name konnte unmöglich echt sein. War es jetzt schon üblich, dass sich auch Barkeeper einen Künstlernamen zulegten?
»Ein Bier!«, orderte er und bekam kurz darauf ein kühles Glas Bier mit einer perfekten Schaumkrone rübergereicht.
Erik drehte dem Tresen den Rücken zu und beobachtete gelangweilt das Treiben um sich herum. Er war zum ersten Mal seit Maikas Tod in einem Nachtclub und wusste nicht, was ihn heute hergeführt hatte. Er gehörte nicht hierher und fühlte sich völlig fehl am Platz. Sein Entschluss zu verschwinden, sobald er ausgetrunken hatte, stand schnell fest. Hier würde er nicht die nötige Ablenkung finden. Wahrscheinlich gab es die für ihn gar nicht.
Eine hübsche Blondine, Ende Zwanzig, schob sich auf den freien Barhocker neben ihm. Mehr als einen flüchtigen Blick hatte er für sie nicht übrig. Er hatte nie probiert, die Lücke, die Maika hinterlassen hatte, mit einer anderen Frau zu füllen.
Für ihn konnte es keine neue Liebe geben. Seinen Seelenverwandten traf man nur ein einziges Mal