Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman. Helen Perkins
»O mein Gott!«, entfuhr es Fee. »Wie schlimm ist es? Wie viele Opfer?«
»Dazu gibt es noch keine Angaben. Die Rettungsleitstelle hat alle Krankenhäuser darüber informiert, dass mit einem größeren Patientenaufkommen zu rechnen sei. Wir müssen auf alles vorbereitet sein.«
Fee nickte nur. Für solche Fälle hielt jede Klinik einen Notfallplan bereit. Der diensthabende Oberarzt hatte den Chefarzt zu informieren und anschließend dafür Sorge zu tragen, dass so viele Mitarbeiter wie möglich zusammengerufen wurden. Während sich Fee und Daniel hastig anzogen, klingelten in ganz München und Umgebung viele Telefone.
Bevor Fee ins Erdgeschoss hinunterlief, schaute sie kurz in Désis Zimmer. Sie war die jüngste Tochter der Nordens und lebte zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Janni noch daheim. Es war mehr als unwahrscheinlich, dass sie zu den Besuchern des Clubs gehören könnte. Trotzdem musste sich Fee davon überzeugen, dass Dési in ihrem Bett lag und schlief.
»Alles in Ordnung«, raunte Daniel seiner Frau zu. »Ich habe gerade bei Janni nachgesehen. Er schläft.«
Die drei ältesten Kinder wohnten nicht mehr zu Hause. Von ihnen wusste Fee daher nicht, ob sie sich in Sicherheit befanden. Sie waren zwar keine typischen Nachtclub-Besucher, aber vielleicht waren sie ja ausgerechnet heute auf die Idee gekommen …
»Auch ihnen geht es gut, Liebling«, unterbrach Daniel ihre Grübeleien. Er schien immer zu wissen, womit sie sich gerade quälte. »Sie sind bestimmt zu Hause. Mach dir ihretwegen keine Sorgen. Ihnen ist nichts geschehen.«
Fee und Daniel erhielten einen kleinen Einblick in das Ausmaß des Geschehens, als sie in der Behnisch-Klinik ankamen. In der Einfahrt vor dem Haupteingang standen mehrere Rettungsfahrzeuge, die Patienten auf Tragen oder in Rollstühlen in die Notaufnahme brachten.
Hier herrschte Hochbetrieb. Sämtliche Ärzte und Pflegekräfte schienen anwesend zu sein und bei der Versorgung der Opfer zu helfen. In jedem Behandlungszimmer wurden mindestens zwei Verletzte gleichzeitig versorgt. Selbst auf dem Flur standen Tragen, auf denen Patienten lagen, um die sich dort gekümmert wurde, weil die Räume nicht ausreichten. Mehrere Leichtverletzte saßen im Warteraum und warteten auf ihre Behandlung.
Fee langte nach einem sauberen Kittel und Handschuhen, die auf einem kleinen Tischchen bereitlagen.
»Wohin?«, rief sie Schwester Anna zu, die ihr auf dem Flur entgegengelaufen kam.
»Uns fehlt ein Arzt in der Zwei!«, lautete die hastige Antwort, und schon war Fee auf dem Weg zu ihrem ersten Patienten.
Daniel musste sich zuerst einen Überblick verschaffen und dann festlegen, wer für die Koordination der Abläufe zuständig sein sollte. Er sah, dass der Schockraum leer war. Ein gutes Zeichen. Niemand war also lebensgefährlich verletzt und musste dort notversorgt werden.
»Frau Rohde!«, rief er, als er die Chirurgin sah. »Geben Sie mir einen kurzen Überblick!«
Christina Rohde atmete tief durch.
»Wir haben achtzehn Verletzte aufgenommen, die Leichtverletzten im Warteraum noch nicht mitgezählt. Hier in der Aufnahme sind noch vierzehn, zwei werden gerade in den OP gebracht, zwei sind schon auf Station.«
»Wie schwer sind die Verletzungen? Gibt es Brandwunden?«
»Nein. Das Feuer war auf den hinteren Teil des Clubs beschränkt und wurde von der Feuerwehr schnell gelöscht. Die meisten Patienten haben deshalb nur leichte Rauchgasvergiftungen oder wurden zum Durchchecken hergebracht. Wahrscheinlich können sie nach einer gründlichen Untersuchung wieder entlassen werden. Das größere Problem war die Gasexplosion. Einige Gäste haben Verletzungen davongetragen, als sie von Trümmerstücken getroffen wurden. Für niemanden von ihnen besteht aber akute Lebensgefahr.«
»Toll!« Daniel stieß erleichtert die Luft aus.
»Noch gibt es keine Entwarnung«, bremste ihn Christina Rohde aus. »Viele Clubbesucher wurden noch gar nicht geborgen. Sie hielten sich im Foyer des Clubs auf und hatten es noch nicht nach draußen geschafft, als es zu der Explosion kam. Wahrscheinlich werden noch bis zu fünfzig Menschen vermisst. Ich fürchte, für sie wird es nicht so gut ausgegangen sein.«
Daniel nickte ernst. »Dann sollten wir zusehen, dass wir die Aufnahme schnell freibekommen und uns auf das Schlimmste vorbereiten. Wer hat hier die Leitung?«
»Ich, obwohl ich im OP dringender gebraucht werde. Und nicht nur ich. Das OP-Team ist noch nicht komplett. Es wäre schön, wenn Sie … Aber wahrscheinlich werden Sie hier in der Aufnahme die Leitung übernehmen wollen.«
»Nein, das kann Herr Berger machen. Wo steckt er überhaupt?« Daniel sah sich suchend nach seinem besten Notarzt um. Es gab niemanden, dem er diese Aufgabe lieber anvertrauen würde.
»Ich weiß es nicht«, beantwortete Christina seine Frage. »Wir haben mehrmals versucht, ihn zu erreichen, doch ohne Erfolg. Er ging nicht an sein Telefon. Kann es ein, dass er absichtlich … Ich meine, er war ziemlich sauer und …«
»Nein, auf gar keinen Fall!«, stoppte Daniel die Chirurgin. »Das würde er niemals tun. Es muss einen anderen Grund geben.« Bergers Einsatzbereitschaft und sein Pflichtgefühl waren legendär.
Nichts und niemand könnte ihn davon abhalten, in Krisensituationen seinen Dienst anzutreten. Hausverbot hin oder her. Vielleicht hatte er nur sein Handy im Auto vergessen. Spätestens morgen, wenn er in den Nachrichten von dem Unglück hören würde, käme er hierher. Bis dahin musste es auch ohne ihn gehen.
Oberarzt Josef Schwebke, der Leiter der Gynäkologie, betrat die Aufnahme. Sein ungekämmtes Haar und der verschlafene Gesichtsausdruck verrieten, dass auch ihn der Anruf aus der Klinik im Tiefschlaf erwischt hatte. Daniel winkte ihn zu sich. Schwebke war genau der Mann, dem er nach Berger zutraute, den Katastrophendienst in der Notaufnahme zu übernehmen.
Daniel wies ihn kurz ein und übertrug ihm dann die Leitung und Koordinierung der Patientenversorgung.
»In Ordnung, Herr Norden. Wo steckt eigentlich Herr Berger? Ist er nicht viel besser dafür geeignet als ich?«
Daniel seufzte. »Sie werden das schon hinbekommen, Herr Schwebke. Sie haben mein vollstes Vertrauen. Und was Herrn Berger angeht, niemand konnte ihn bisher erreichen. Wir probieren weiter unser Glück. Solange er nicht hier ist, sind Sie für alles verantwortlich. Frau Rohde und ich sind im OP.«
Die beiden Feuerwehrmänner, die vor wenigen Minuten einen neuen Verletzten gebracht hatten, kamen mit der leeren Trage zurück. Einen der beiden kannte Daniel bereits von früheren Einsätzen. »Herr Never! Können Sie uns vielleicht einen kurzen Überblick zur Situation vor Ort geben? Mit wie vielen Verletzen müssen wir noch rechnen?«
»Das war vorerst der Letzte für Ihr Haus. Zumindest von denjenigen, die es vor der Explosion hinausgeschafft hatten.« Markus Never blieb stehen und rieb sich über die verschwitzte Stirn. »Die Bergung der Verschütteten wird wohl noch andauern, sodass Sie hier eine kleine Verschnaufpause haben. Wie’s dann weitergeht, kann niemand sagen. Es sind mehr als vierzig Menschen eingeschlossen, die nach der Bergung auf die Kliniken verteilt werden. Es wäre gut, wenn Sie der Leitstelle mitteilen könnten, wo Ihre Kapazitätsgrenze liegt. Das macht uns die Arbeit leichter.«
Dr. Schwebke nickte. »Kein Problem. Ich kümmere mich darum.«
»Wissen Sie schon, wie viele Gäste im Club waren?«, wollte Daniel wissen.
»Er war gut besucht, als das Feuer ausbrach. Man geht von dreihundert Gästen aus. Es grenzt fast an ein Wunder, dass die meisten von ihnen rechtzeitig rauskamen. Ein aufmerksamer Gast hat das Feuer in der Küche entdeckt, ansonsten …« Never verzog das Gesicht. »Ich kann nur hoffen, dass es für die Eingeschlossenen auch ein gutes Ende nimmt.«
Markus Never verabschiedete sich und kehrte mit seinem Kollegen zurück an den Unglücksort, während Daniel in den OP eilte. Unterwegs versuchte er, Erik Berger zu erreichen. Ohne Erfolg. Daniel stöhnte leise. Sie brauchten Berger hier dringender denn je. Bei den eingeschlossenen Clubbesuchern musste mit vielen Schwerverletzten gerechnet werden. Erik Berger