Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman. Helen Perkins

Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman - Helen Perkins


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noch so kleine Bewegung viel Kraft. Kraft, die immer mehr schwand, genau wie die Luft zum Atmen. Er wusste, dass das nicht daran lag, dass der Sauerstoff hier knapp wurde. In die kleine Höhle, in der er lag, zog stetig ein kühler Luftstrom hinein. Nein, daran lag es nicht, dass er Angst hatte, jeden Moment ersticken zu müssen. Es war seine Lunge, die allmählich versagte und es nicht mehr schaffte, den Organismus ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen.

      Erik war lange genug Notarzt, um zu wissen, wie ernst es um ihn stand. Nach seinem letzten Hustenanfall hatte er den metallischen Geschmack von Blut auf seiner Zunge wahrgenommen. Fast hätte er bitter aufgelacht. Nicht nur, dass seine Lungenflügel kollabierten, sie füllten sich auch langsam mit Blut. Entweder hatte eine gebrochene Rippe ein Gefäß verletzt oder der Lungendruck war inzwischen so stark angestiegen, dass die umliegenden Blutgefäße dem nicht mehr standhielten und platzten. Eins war so schlimm wie das andere. Beides bedeutete den sicheren Tod für ihn.

      Bei dem Gedanken an sein nahes Ende wurde Erik ganz ruhig. Hätte er nicht vor Angst und Panik durchdrehen müssen? Warum erschreckte ihn der Tod nicht? Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen, als er an Maika dachte.

      Glücklich schloss er die Augen. Bald würde er sie wiedersehen. Viel zu lange war er von ihr getrennt gewesen. Endlich würde die Sehnsucht nach der Frau, die er immer noch liebte, ihr Ende finden. Bald waren sie wieder vereint …

      *

      Kurz bevor Daniel die Unglücksstelle erreicht hatte, kamen ihm die ersten Rettungswagen mit Blaulicht entgegen. Es war also so weit. Sie hatten wieder Opfer bergen können und brachten sie nun in die umliegenden Krankenhäuser.

      Ein Durchkommen bis zum Club war unmöglich. In einer langen Reihe standen Rettungswagen bereit, die darauf warteten, die Geborgenen fortzubringen. Die letzten hundert Meter legte Daniel deshalb zu Fuß zurück. An der Absperrung blieb er fassungslos stehen und sah schreckensbleich auf den ehemaligen Club, der im Souterrain eines zweigeschossigen Geschäftshauses untergebracht war. Sämtliche Fensterscheiben des Gebäudes waren zerborsten, einige Wände waren in sich zusammengefallen. In den beiden oberen Stockwerken befanden sich Büroräume, die dank der fehlenden Außenwände ihr Inneres freigaben. Das Mobiliar war fast unbeschädigt und schien nur darauf zu warten, dass am Montag ein ganz normaler Arbeitstag losging.

      Den unscheinbaren Seiteneingang, der in den Nachtclub führte, hatten die Rettungskräfte mit Tüchern und behelfsmäßigen Sichtwänden vor den Blicken der zahlreichen Schaulustigen gesichert. Hier wurden fast im Minutentakt Verletzte geborgen und in die Rettungswagen gebracht.

      »Daniel! Komm durch!« Dr. Fred Steinbach hatte seinen alten Freund entdeckt und eilte zu ihm, um ihn hinter die Polizeiabsperrung zu holen. Gemeinsam mit ihm ging er zu dem Rettungswagen, der am anderen Ende des Nachtclubs stand und an dem Jens Wiener wartete.

      »Die Sache mit Erik Berger tut mir schrecklich leid, Daniel«, sagte der Rettungsarzt. »Ich habe es erst vor wenigen Minuten erfahren. Jens Wiener und ich stehen hier bereit, damit wir uns um ihn kümmern können, sobald er gefunden wurde.« Er führte Daniel um den Wagen herum. Hier, abseits der Öffentlichkeit, war ein separates Team von Feuerwehr und THW mit der Suche nach Berger beschäftigt. Auch ein Hundeführer war dabei, dessen Belgischer Schäferhund geschickt über die Trümmer sprang, um die Spur des Vermissten aufzunehmen.

      »Ihr vermutet ihn hier?«, fragte Daniel gespannt.

      »Ja«, beantwortete Markus Never, der sich zu ihnen gesellte, die Frage. Er ging zu einem kleinen Tisch hinüber, auf dem Bauzeichnungen lagen. Mit einem roten Faserstift war auf dem Grundriss des Clubs eine Stelle eingekreist worden. »Das ist der Bereich, der der Küche gegenüberliegt. Hier gibt es einige Tischnischen, von denen Herr Berger am Telefon gesprochen haben könnte. Er kann sich nur dort aufhalten, denn woanders hätte er keine Chance gehabt. In diesen Nischen ist das Mauerwerk so dick, dass es genügend Schutz bietet. Die Männer vom THW sind vorhin mit einer Endoskopkamera angerückt und suchen ihn gezielt in dieser Gegend. Ich hoffe, dass sie ihn bald finden.«

      Markus Never sah einem davonfahrenden Rettungswagen nach, der vom Haupteingang des Clubs losfuhr. »Es grenzt fast an ein Wunder, dass es bisher keine Todesopfer zu beklagen gibt. Alle Verschütteten hatten großes Glück, dass die Explosion am anderen Ende des Nachtclubs war und sie sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Foyer befanden. Dort gibt es stabile Decken und feste Mauer, die dem Druck gut standhielten. Im Großen und Ganzen geht es ihnen allen gut, wenn man davon absieht, dass sie stundenlang ausharren mussten und sicher schwer traumatisiert sind.«

      Das laute, aufgeregte Rufen seiner Kollegen ließ Markus innehalten. »Ich glaube, sie haben ihn«, rief er und lief los. Daniel und Fred Steinbach folgten ihm. Auch Jens Wiener, den Rettungssanitäter, hielt nichts mehr am Wagen. Geistesgegenwärtig griff er nach der Notfalltasche und rannte zur Bergungsstelle. Er rechnete damit, dass sie den vermissten Arzt der Behnisch-Klinik sofort medizinisch versorgen müssten. Nach wenigen Metern blieb er enttäuscht stehen. Mehr als ein kreisrundes Loch, das so klein war, dass ein erwachsener Mann nur schwerlich durchpasste, war noch nicht zu sehen.

      »Wo ist er? Habt ihr ihn gefunden?«, fragte er die Männer.

      »Ja, die Kamera hat ihn erfasst«, gab Rainer Gutknecht bedrückt Auskunft. Der Einsatzleiter, der die gesamten Rettungsmaßnahmen vor Ort koordinierte, war nicht wohl bei dem, was er nun zu sagen hatte. Das war der schlimmste Teil seiner Arbeit: anderen sagen zu müssen, dass ein nahestehender Mensch den Kampf gegen den Tod verloren hatte.

      »Es tut mir sehr leid, Dr. Norden«, sagte er einfühlsam. »Wir haben alles getan, um ihn so schnell wie möglich zu finden, aber es hat nicht gereicht. Wir kamen zu spät … Er hat es nicht geschafft …«

      »Nein!«, stieß Daniel brüsk hervor. Er konnte fühlen, wie sein Herz hart in seiner Brust schlug. Das durfte einfach nicht sein! Erik Berger, der größte Nörgler, Zyniker und Griesgram der Behnisch-Klinik, konnte unmöglich tot sein. »Nein! Das muss ein Irrtum sein … Ich … Ich habe erst vor einer knappen Stunde mit ihm gesprochen … Ich …« Er brach ab, unfähig weiterzusprechen, ohne dabei vollends die Fassung zu verlieren. Was sollte er auch noch sagen? Er wusste doch selbst am besten, dass Leugnen nichts brachte. Es war nur ein hilfloser Versuch, mit der traurigen Gewissheit, dass Dr. Erik Berger nicht mehr lebte, klarzukommen. Das Telefonat mit Berger lag eine Stunde zurück. Eine Stunde, in der alles passieren konnte. Niemand wusste das besser als Daniel. Oft machten Minuten, ja, Sekunden, den Unterschied zwischen Leben und Tod. Eine Stunde war endlos lange für jemanden, der so schwer verletzt war wie Erik Berger. Trotzdem sträubte sich alles in ihm, diese furchtbare Wahrheit anzunehmen. Es durfte einfach nicht sein! Er konnte seinen Mitarbeitern unmöglich sagen, dass alles umsonst gewesen war und dass sie Berger nie wiedersehen würden.

      »Vielleicht … Woher wissen Sie, dass er … dass er nicht mehr lebt?«

      »Dr. Norden, ich weiß, wie schwer das für Sie sein muss, aber manchmal muss man das Unfassbare einfach akzeptieren. Es wäre gut, wenn wir mit den Angehörigen Kontakt aufnehmen könnten, um sie zu informieren. Sie sollten es erfahren.«

      Daniel schüttelte unwirsch den Kopf. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Woher wissen Sie von seinem Tod? Hat jemand seinen Herzschlag überprüft? War überhaupt jemand bei ihm?«

      »Natürlich nicht, und das wissen Sie auch.« Gutknecht sah ungeduldig auf. »Wir sind ja schon froh, dass wir die kleine Höhle, in der er liegt, gefunden haben. Viel sehen konnten wir nicht, trotz der LED-Lampe an der Kamera. Dafür ist es dort einfach zu finster. Herr Berger hat auf keinerlei Kontaktversuche reagiert. Auch Atemgeräusche konnten wir mit dem leistungsstarken Mikro nicht mehr auffangen.«

      »Das allein reicht Ihnen aus, um den Mann für tot zu erklären?«

      »Das und meine jahrelangen Erfahrungen. Niemand schafft es, so viele Stunden in diesem kleinen Hohlraum bei eisigen Temperaturen und mit schwersten Verletzungen zu überleben!«

      »Wenn es einer schaffen kann, dann Dr. Berger«, beharrte Daniel. »Sie kennen ihn nicht! Sie wissen nicht, zu was er imstande ist, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Ich gebe ihn nicht auf, nur weil Sie ihm keine Chancen einräumen. Wenn Sie ihn da nicht rausholen, mache ich das eben!«


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