Mythos Mensch. Frank Lisson
Realitäten und damit der menschlichen Natur gegenüber als Menschen zu verhalten? Das Wachstum der Menschheit sorgt für deren Formung und Wandlung. Wie ein Organismus, der sich seinen Lebensraum erobert und entsprechend gestaltet, indem er sich nach Maßgabe seines Wachstums dort einbringt. Kulturelle Wandlungen erklären sich nicht aus dem Bedürfnis nach Kultur – genauso wenig wie das Kind erklären könnte, warum es spielt oder spielen will. Wo die Natur des Menschen nicht mehr außerhalb der Gesamtnatur, sondern als streng von dieser abhängig, ja auf ihre Weise identisch mit ihr gedacht wird, erlischt jeder Anthropomorphismus, und Kultur muss fürderhin ganz anders betrachtet und begriffen werden als bisher. Die Genese seiner Art nennt der Mensch Kultur, die der Tiere Natur. Doch ist Kultur nur eine höhere Form von Natur für diejenigen, die ihren Werdegang, ihre Evolution selber zu gestalten meinen. In beiden aber wirken die gleichen Kräfte, nur auf verschiedenen Ebenen. – Wenn es also je einen echten Fortschritt in der Philosophie geben sollte, dann bestünde der im Abschied vom Anthropomorphismus.
Große Zeit des Menschen. – Die Welt der letzten dreitausend Jahre, die uns kulturell geformt und erfüllt hat, wird mit ihrem Vergehen verabschiedet und ins Museum gestellt. Und so lässt das 21. Jahrhundert den Menschen wenigstens drei ganz neue Erfahrungen machen: die der Digitalisierung des Lebens, also die der totalen Abhängigkeit des Einzelnen von elektronischen Geräten; daraus folgend die der technischen Vernetzung aller mit allem; und zuletzt die der praktizierten Selbstauslöschung der alten europäischen Kulturvölker unter Missachtung der Tatsache, dass Menschheitsgeschichte Verdrängungsgeschichte ist. – Die bisherige Entwicklung bestand darin, dass das Empirische eine neue Qualität bekam. Was sich dagegen im 21. Jahrhundert an Veränderungen ereignet, ist in der gesamten Weltgeschichte ohne Beispiel und trifft die aus historischen Erfahrungen erwachsene Gattung völlig unvorbereitet. Die bisher größte und schönste Idee, welche Menschen je erdacht haben, die des freien, schönen Individuums, weicht einer neuen, völlig anderen Praxis, deren Entwicklung wir nicht vorhersagen können. Wir wissen nur, dass sie von einer ganz neuen Art sein wird, die zu der alten Welt keine Verbindungen oder Übergänge mehr zulässt – außer die durch nostalgische Wunschvorstellungen imaginierten. Die Welt des bisherigen Menschen geht von nun an verloren, und zwar in vielerlei Hinsicht: der Mensch verliert sein tradiertes Selbstverständnis als Mensch, und damit den gesamten kulturgeschichtlichen Horizont, der hinter ihm liegt. Langsam beginnt er zu ahnen, dass alles, was er seine Geschichte nennt, bloß Episoden unterentwickelter Stadien waren, denen noch eine ganz andere Menschheitsgeschichte folgen wird. Vielleicht beginnt erst jetzt, mit dem postkulturellen Weltalter, die große Zeit des Menschen, der in zweihundert oder fünfhundert Jahren mit Hilfe grandioser Technik einen Entwicklungsgrad erreicht haben dürfte, welcher uns heute noch völlig phantastisch, unverständlich und fremd erscheinen muss, und ihn dazu berechtigte, mit dem gleichen geistigen Abstand auf uns Heutige herabzublicken, wie wir auf den prähistorischen Menschen sehen. – Man kann es überall beobachten und spüren, dass die bisherige Welt mit etwas schwanger geht, das zwar aus ihr entspringt, aber so wenig mit seinen Erzeugern verwandt sein wird, dass diese in ihrer bisherigen Form dort ihr Ende finden müssen.
Von kommenden Welten. – Nachdem die meisten kulturellen Gewohnheiten kraftlos und ungültig geworden sind, werden die kommenden Generationen gezwungen sein, neue Identitätsmuster zu bilden. Bislang ergaben sich Identitäten gewissermaßen automatisch aus den vorgefundenen, zumeist sehr alten gesellschaftlichen Ordnungssystemen, die wiederum deshalb zustande kommen konnten, weil die Welt für den Menschen infolge seines Mangels an Transparenz etwas durchaus Fassbares war; er fand eine klar umgrenzte Welt vor, in der alles überschaubar seinen Platz hatte. Seit etwa hundert Jahren lässt sich nun das Schauspiel beobachten, wie Menschen auf die Mutation dieser alten Weltanschauung reagieren: während die einen die Auflösung der Reste tradierter Weltbilder und Identitäten forcieren, ziehen sich die anderen dahin zurück und fordern »auf verlorenem Posten« die Wiederbelebung und Rückeroberung jener greifbaren, geordneten Welt überkommener Identitätsmuster. Die nächsten Jahrhunderte werden jedoch den fürchterlichen Beweis antreten, dass kein Wertesystem, keine kulturelle Ordnung, kein »Eigenes«, kein »nationales Wir« und kein »Das-war-aber-schon-immer-so« den Anspruch auf Unvergänglichkeit erheben darf, nichts Menschliches »gottgegeben« oder unumstößlich ist. Nie zuvor trat dem Menschen die Unbeständigkeit aller menschlichen Dinge und synthetischen Wirklichkeiten mächtiger vor Augen als heute. Das Weltalter der Entgrenzung erfordert nicht nur neue Weltverarbeitungsstrategien, sondern auch eine bislang als »unnatürlich« empfundene Flexibilität im Umgang mit Normen, da diese ebenfalls ihren allgemeingültigen Gesetzescharakter verloren haben. Auf der Suche nach neuen Identitäten werden die alten Normen also keine verlässliche Orientierung mehr bieten können, so dass vielleicht jede Generation, jede soziale Gruppe eigene Muster entwerfen wird, die auch nur für sie gültig und verbindlich sind. – Jedenfalls ziehen gewaltige Rätsel und Fragestellungen den Horizont herauf, gegen die unsere heutigen Sorgen um den Bestand der alten Ordnungen provinziell und kleinlich anmuten. Wenn der Mensch erst einmal alle seine Zugehörigkeitsansprüche verloren hat, sich weder mit Gewissheiten seiner ethnischen Herkunft noch seines Geschlechts begnügen mag, weil das alles für seinen neuen Blick auf die Gattung keine entscheidende Rolle mehr spielt, dürfte er tatsächlich eine weitere Stufe evolutionärer Entwicklung erklommen haben. Von hier aus werden sich die kommenden Generationen sehr wahrscheinlich endgültig aus dem alten Welt- und Menschheitsverständnis des kulturellen Zeitalters entlassen und sich anderen, noch nicht absehbaren Selbstdeutungen und Identitätsformen zuwenden. – Welche neuen Identitäten wird sich der im Grunde säkularisierte und entnationalisierte Weltmensch in Zukunft also geben können und wollen? Denn die Frage nach der Identität ist stets eine selber gemachte, und es gibt keine artgebundenen, durch die Natur festgesetzten, sondern nur übernommene Identitäten, die durchaus und immer wieder wechseln können. – Doch was, wenn der Mensch irgendwann gar keine Identitäten im herkömmlichen Sinne mehr nötig hätte? Wenn alle Identitäten im Zeitalter der Kulturen zurückgelassen worden wären und der Mensch wieder wie das Tier bloß seine Grundbedürfnisse lebte? Die Gattungszugehörigkeit mit ihren spezifischen Anforderungen an den Einzelnen böte dann jedem ein global gültiges Identitätsmuster an, das nicht weiter reichte als es die jeweiligen Wohlfühlmoden erforderten. Womöglich sind alle heute doch nur scheinbar aufflammenden Erneuerungsversuche religiöser oder nationaler Identität bloße Rückzugsgefechte jener Restbestände, die mental noch dem gerade vergehenden Weltalter angehören.
Automatologie. – Das Begreifen der Welt des 21. Jahrhunderts setzt bereits heute einen erweiterten Menschen voraus. Eine solche Erweiterung ist aber nur durch Automatisierung möglich. Der Mensch wird sich mehr und mehr automatisieren müssen, um in den synthetischen Wirklichkeiten des neuen Weltalters zurechtzukommen. Und so dürfte das bedeutendste Ereignis des 21. Jahrhunderts die allmähliche Auflösung der Grenzen zwischen dem Organischen und Anorganischen sein; also die Revision des bisherigen Lebensbegriffs durch das Verschmelzen von organischem und unorganischem »Leben«. Automobil und Smartphone gehören inzwischen zum Menschen wie externe Organe. Alle drei »Wesen« sind zusammengewachsen zu einem neuen Organismus, einer Einheit, Lebensform. Das Maschinenmenschenwesen nimmt darin seinen Anfang, dass heute jeder ein Auto fahren und ein Smartphone handhaben muss, um ein vollwertiger Spielteilnehmer zu sein. Hunderttausend Jahre lang kamen die Menschen ohne Kraftfahrzeuge, Mobiltelephon, Internet aus. Von nun an beginnt das Zeitalter, da all diese Dinge nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind – und zwar nie mehr! Der Weltzustand davor ist unwiederbringlich verlorengegangen – und mit ihm die Stille, das echte Alleinsein, der bis dahin authentische Mensch. Wen aber durchzuckt ein Schrecken darüber, dass schon heute niemand mehr aktiv an der Welt teilnehmen kann, der über kein Mobiltelphon und über keinen Internetanschluss verfügt… In fünfzig oder hundert Jahren wird die virtuelle Vernetzung für jeden so selbstverständlich und verpflichtend sein, wie es heute die Kleidung ist: niemand hält sich unbekleidet unter Menschen auf oder auch nur in der eigenen Wohnung…
Totalisierte Menschheit. – Erst von da an, wo wir annehmen müssen und heimlich darum wissen, dass die Gattung kein Ziel hat, sowenig wie irgendwelche anderen Lebens- oder Seins-Formen ein Ziel haben, können wir uns mit dem ganz und gar auf Konsumpragmatismus ausgerichteten Leben abfinden. Der Mensch akzeptiert sein zweckloses Dasein als bloßen Selbstverwaltungsakt und versteht sich selber als höheren Erhaltungsapparat