Mythos Mensch. Frank Lisson

Mythos Mensch - Frank Lisson


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Üblichen abweichend verläuft? Ein gesunder Organismus scheint nur wenig Skepsis gegenüber der eigenen Art zu dulden. So verliert der Mensch die Scheu vor sich und seinen Programmen. Dagegen blickte man in den alten Kulturen noch entschieden misstrauischer auf die menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse. Erst die Zivilisation ließ dem Menschen und seinen Möglichkeiten freien Lauf.

      Homo mensura. – Zehn Jahre euphorisch betriebene Neurowissenschaften haben bei der Beantwortung der Frage: was ist das Gehirn? kaum einen Schritt über den tradierten Kenntnisstand hinausgeführt. Den Aufbau eines Organs beschreiben zu können, bedeutet noch nicht, über sein Was, Wie und Warum Klarheit zu gewinnen. Tatsächlich befinden wir uns heute, trotz zahlloser Einzeluntersuchungen in den verschiedensten Disziplinen, noch immer mehr oder weniger am gleichen Erkenntnisort, den bereits die Alten besiedelten. Und es scheint, als haben die Neurowissenschaften die Frage nach dem Wesen des Menschen wieder zurück an die Philosophie gegeben. Nun gilt es, die simple Tatsache des Protagoras, also jenen evident-hellsichtigen Homo-mensura-Satz: ἄνϑϱωπος μέτϱον ἁπάντων5 erneut zum Ausgangspunkt des Erkennens zu machen. Das besagt: es gibt für den Menschen keine Wahrheit, die er nicht selber erschaffen hätte! Die Konsequenzen daraus – so man sie denn einmal genauer besehen wollte – sind drastisch, aber sie bilden bis heute unsere Wirklichkeit subjektiver Weltverwertung; und damit die Wurzel der täglich zu erlebenden und deshalb als normal hingenommenen menschlichen Rücksichtslosigkeit.

      Was denkt in uns? – Das Gehirn prüft als natürliches Frühwarnsystem die Welt auf Bekanntes, bereits Berechnetes. Denn die Menschen mussten Gefahren voraussehen können, um zu überleben, da sie über keine anderen geeigneten Fähigkeiten verfügten, sich spontan zu verteidigen. Ihr Spezifisches wurde so das Gehirn. Was bei anderen Tieren die Fluchtgeschwindigkeit, Tarnung, Panzerung oder das Totstellen war, ersetzte beim Menschen das Antizipieren von Gefahren durch Denken. Daraus wird deutlich, wie das Denken als organische Funktion entstand und nach welchen Erfordernissen es bis heute im Menschen »arbeitet«. – Denken also wir oder denkt das Denken uns? Wodurch können wir Gleiches denken wie andere – und doch von ihnen verschieden sein? Ferner: worin besteht der Unterschied zwischen Gefühlen und Gedanken? Sind doch beides Äußerungen desselben Organs, des Gehirns, sie befinden sich also in interaktiver Verbindung mit dem gesamten Körper. Wahrscheinlich ist Denken eine höhere Form des Fühlens, und aus dem Sensitiven einst hervorgegangen. Unser ganzer Körper »denkt«, sobald er etwas empfindet, denn jedes Gefühl ist ein »Gedanke« desjenigen Organs, das es hervorgerufen hat. Immerhin muss jedes Gefühl empfunden werden, um zu sein, also vom Gehirn registriert, und so gehen die Gefühle von den verschiedensten Organen aus, nämlich von allen, die dazu geeignet sind. – Fühlen, Denken, Wollen sind daher die verschiedenen Akzente ein und desselben Vorgangs. Keine dieser Regungen lässt sich von einer anderen gänzliche isolieren, und in allen Lebewesen sind alle drei angelegt, nur freilich in unterschiedlichen Graden und Qualitätsstufen.

      Weltnatur. – Des Menschen Geist und Sinne haben sich der »Weltnatur« gemäß entwickelt – und nicht willkürlich oder eigenständig. Was wir vermögen, dient unserer spezifischen Natur dazu, uns in der übrigen Natur zurechtzufinden, um überleben zu können. Folglich ähnelt die eine Natur der anderen, und es stehen beide in einem engen Verwandtschaftsverhältnis zueinander, da unsere spezifische Natur aus der »Weltnatur« hervorgegangen ist. Deshalb ist alle Metaphysik höherer Unsinn, denn es kann nichts über diese beiden Naturen hinaus geben bzw. erkannt werden. Metaphysische Modelle dienen der Vereinfachung, den Menschen nicht allein aus der »Weltnatur« heraus erklären zu müssen.

      Wille zur Kausalität. – Nicht ausgeschlossen, dass man in fünfzig oder hundert Jahren über die Urknalltheorie genauso schmunzeln wird wie wir Heutigen über das physikalische Weltbild der Menschen im sogenannten Mittelalter lächeln. Denn wir haben allen Grund, uns auch der modernen Physik gegenüber eine gehörige Portion Skepsis zu bewahren. Vielleicht ist das Sein der Welt mit menschlichen Maßstäben gar nicht zu erfassen, und alle Theorien und Formeln sind nur unzureichende Hilfsmittel bei dem Versuch, die Welt »menschlich« zu denken.

      Mythos Menschwerdung. – Nirgendwo zeigen sich heute die Lust am Mythos und die daraus erwachsende Macht des Mythos deutlicher als in der sogenannten Out-of-Africa-Theorie, wonach die rezente Menschheit von einer einzigen Hominiden-Linie abstamme, deren Ursprung im südöstlichen Afrika liege. Nur durch die Wirkung jener beiden Kräfte, Lust und Macht, wird plausibel, wieso abermals niemand widerspricht, wo eine wissenschaftlich und logisch völlig haltlose Konstruktion für kanonisch erklärt wird, weil die gerade gültige Ideologie danach verlangt. Denn die These, dass sich »der« moderne Mensch von Afrika aus über die Welt verteilt habe und alle späteren Menschen aus diesem einen Stamm hervorgingen, erklärt anthropologisch gar nichts, fördert und stärkt aber das politische Dogma von der »One-World«, in der lauter »gleiche« Menschen »derselben Art« lebten, deren Unterschiede – und treten diese auch noch so deutlich hervor – genetisch minimal und als »kulturell erzeugte Konstrukte« zu verstehen seien, die es nunmehr, im Globalisierungszeitalter totaler Nivellierung, abzuschaffen gelte. Obwohl wir heute zu wissen meinen, dass sich etwa die Landwirtschaft eben nicht monokausal von Mesopotamien aus über die Erde verbreitet hat, wie lange angenommen worden war, sondern an mindestens sieben Orten der Welt relativ gleichzeitig und unabhängig voneinander entstanden ist, gestattet man sich bei der Frage nach dem Ursprung des Menschen keinerlei Zweifel. – Man traut der Menschwerdung eine solche »Gleichzeitigkeit« (noch) nicht zu, weil derlei Relativierungen heute, da wir alle »Afrikaner« sein sollen, moralpolitisch nicht wünschenswert wären. Obwohl viel zu wenige Funde frühmenschlicher Fossilien vorliegen, um gen-analytisch gesicherte Ergebnisse erzielen zu können, scheint dennoch niemand unter den tonangebenden Wissenschaftlern das derzeit für gültig erklärte, monokausale Entstehungsmodell zu beanstanden, und so arbeitet man – wie in allen Fragen von politisch-ideologischer Brisanz – auf das gewünschte Resultat hin. Eben dieses Resultat aber, das die »richtige Gesinnung« dem Forscher heute befiehlt, hätte sie ihm noch vor hundert Jahren verboten. Und wer wäre vor dreihundert Jahren kühn genug gewesen, den »wahren Kern« der biblischen Schöpfungsgeschichte anzuzweifeln? Im Grunde also lebt der symbolisch hochaufgeladene Mythos vom menschlichen Ur-Paar im ideologischen Zeitalter fort. – Wie aber sollten sich die verschiedenen Rassen gebildet haben, wenn alle Menschen, die wir heute unter dem Begriff Homo sapiens zusammenfassen, eines genetischen Ursprungs gewesen sind und es nicht zu Vermischungen unter den zahlreichen Hominiden gekommen ist, aus denen sich eigene Menschenarten entwickelt haben, die unabhängig voneinander an unterschiedlichen Orten aus diversen Zweigen hervorgegangen waren? Wissen wir doch bis heute nicht, woraus sich etwa Homo sapiens oder Homo neanderthalensis entwickelt haben – die plötzlich einfach »da« gewesen sein und daraufhin bestimmte Gebiete bevölkert haben sollen. Ebenso wenig wissen wir, wie viele Hominiden es überhaupt je gegeben hat; fast jährlich trägt die Archäologie irgendwo eine neue Art ans Licht. Daher zweifelt inzwischen niemand mehr daran, dass kein Stammbaum, sondern ein Stammbusch rekonstruiert werden müsste, wollte man der hochkomplexen Entwicklungsgeschichte des Menschen auf die Spur kommen. Wir blicken also auf ein Geflecht zurück, dessen arabeske Verzweigungen gesicherte Herkunftslinien gar nicht zulassen, so dass es die eine, in sich geschlossene Spezies, die wir Homo sapiens nennen, vielleicht nie gegeben hat. Vielmehr dürfte die heutige Menschheit das genetische Produkt zahlreicher Verbindungen zwischen verschiedenen Hominiden sein, die zu einer »Art« zusammengeschmolzen sind, weshalb von der »Ur-Gleichheit« aller Menschen auch ethnologisch keine Rede sein kann. – Doch wo immer Forschung und Wissenschaft von der Gunst religiöser oder politischer Auftraggeber und Meinungsmoden abhängen, das heißt: wo sich persönliche Karrieren über die »richtige Haltung« zum jeweiligen Gegenstand entscheiden, haben wir es mit den gleichen Denkbegradigungen und sophistischen Lavierungskünsten zu tun. Oder mit dem echten Glauben an das zu Meinende aus vielleicht unbewusster Gehorsamspflicht, weil ein Automatismus der Instinkte im Menschen waltet, der ihn an das Vorteilhafte bindet. Denn die Aussichten auf eine Dozentenstelle lösen ganz ähnliche Verhaltensmechanismen aus wie die Androhung des Scheiterhaufens. Und so bleibt es erstaunlich, dass selbst im 21. Jahrhundert manche Forschungszweige immer noch neue Mythen erzeugen und fortspinnen, weil den Zeitgeistgewissheiten und Gesinnungszwängen weiterhin größere


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