Die Krone der Schöpfung. Lukas Bärfuss
der direkteren, engeren Verbindung. In der Grammatik nennt man diese Verbindungen Konjunktionen. Dazu gehören Worte wie »und« oder »dass«. Es gibt eine Theorie über die Konjunktionen, hier soll uns nur genügen, dass der Zusammenhang, den sie zwischen Tatsachen herstellen, nicht überprüfbar sein muss, um akzeptiert zu werden.
Natürlich ist es wichtig, Geschichten kritisch zu hinterfragen – aber das ist äußerst schwierig, um nicht zu sagen unmöglich. Sie konnten sich nicht gegen die Verbindung Schnee-Schreiben wehren. Geschichten sind mächtiger als unser kritisches Bewusstsein. Und das hat evolutionäre Gründe.
Jenseits der Instinkte, die wir mit den Tieren teilen, sind es die Geschichten, die uns als Menschen das Überleben garantieren. Um einer Gefahr zu entgehen, muss ich Tatsachen verknüpfen, und die Art und Weise, wie ich das tue, entnehme ich den Geschichten, die ich über diese Tatsachen kenne. Die Gefahr des Straßenverkehrs begreife ich, weil meine Eltern und der Dorfpolizist Tatsachen verknüpft haben und die Medien mir täglich solche Geschichten erzählen. Ich muss niemals einen Verkehrsunfall erlebt haben, um zu begreifen, wie ich die Tatsache »Ich stehe an der Straße« mit der Tatsache »Ein Lastwagen nähert sich« verknüpfen muss: Ich sollte besser warten, bis der Sattelschlepper vorbei ist.
Und jetzt kennen Sie auch die einfachste Art, eine Geschichte zu beginnen. Man nimmt eine Tatsache und stellt eine zweite dazu. Die Geschichte ist dann zu Ende, wenn ich eine dritte Tatsache liefere, die die Verknüpfung der beiden klärt. »Die Frau steht in der Küche. Auf dem Tisch liegt eine Pistole.« Die Spannung wird aufrechterhalten, bis der Leser weiß, ob und auf welche Weise diese beiden Tatsachen verbunden sind. Hat die Frau die Pistole gesehen? Wird sie die Pistole nehmen? Was wird sie anstellen?
Diese Methode ist ein alter Hut, wenigstens für jene, die professionell Geschichten erzählen. Daneben gibt es eine Reihe anderer Techniken, um den Leser an den Haken zu bekommen. Ankündigungen etwa sind sehr wirksam, oder wenn man die Erwartungen des Lesers bricht. Die Erforschung, wie Geschichten beschaffen sein müssen, damit Menschen sich mit ihnen beschäftigen, hat in den letzten hundert Jahren große Fortschritte gemacht.
Im neunzehnten Jahrhundert waren die Dramaturgien der Werkstruktur verpflichtet, sie begriffen Geschichten von ihrem Aufbau her. Beispielhaft dafür ist »Die Technik des Dramas« von Gustav Freytag aus dem Jahr 1863.[1] Wie seine Vorgänger, von denen Aristoteles der berühmteste ist, verstand auch Freytag viel von der Struktur, allerdings wenig darüber, wie Geschichten auf den Leser oder Zuschauer wirken.
Das änderte sich erst zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, und der Grund dafür waren die Produktionsbedingungen einer neuen Kunst, die dreißig Jahre nach Freytags Werk in einer chemischen Fabrik am Rande der französischen Stadt Lyon von den Gebrüdern Lumière erfunden wurde. Im Gegensatz zur Literatur und zum Theater wurden Filme industriell hergestellt. Der finanzielle Einsatz war hoch, und die Besitzer des Studios hatten alles Interesse daran, ihr Risiko zu minimieren. Sie wollten wissen, weshalb bestimmte Geschichten von den Menschen geliebt, andere aber abgelehnt werden. Eigentlich ist es ganz einfach, wie Billy Wilder, einer der erfolgreichsten Regisseure des klassischen Hollywoods, festhielt: »Pack die Zuschauer bei der Gurgel und lass sie nicht mehr los.« Aber wie soll das geschehen? Mit welchen Mitteln? Man brauchte verlässliche Methoden.
Eine der erfolgreichsten wurde 1946 entwickelt, von einem gewissen Lajos Egri, ein Ungar, der als Kind in die USA emigriert war, sich als Gewerkschafter engagierte und daneben einige mäßig erfolgreiche Stücke schrieb, bis er sich auf das Unterrichten verlegte. Sein Buch »The Art of Dramatic Writing«,[2] zum ersten Mal 1946 erschienen, legte den Fokus auf das Betriebssystem einer Geschichte. Für Egri war nicht mehr die Struktur entscheidend, sondern das, was er Prämisse nannte. Darunter verstand er den Zweck, den er jedem Moment, dem Leben und deshalb auch einer guten Geschichte unterstellte. Für »König Lear« definierte er die Prämisse: »Blindes Vertrauen führt in den Untergang«, für »Romeo und Julia« dagegen »Liebe trotzt dem Tod«. Egris Dramaturgie ist zweifellos von der Prüderie und vom Moralismus seiner Zeit geprägt, gleichwohl hatte er den Schlüssel gefunden. Es ist nicht die äußere Struktur, die Geschichten erfolgreich macht, sondern das behauptete, aber ungeklärte Verhältnis zwischen den Tatsachen. Das ist es, was uns gefangen nimmt.
Egri wird bis heute gelesen und wurde zum Vorbild für eine unüberschaubare Zahl an Büchern, die dem Wesen der Geschichte auf die Spur kommen wollen, jene von Syd Field,[3] Sol Stein[4] und Robert McKee[5] sind darunter nur die berühmtesten. Heute hat die Frage, wie es narrativen Strategien gelingt, uns in ihren Bann zu schlagen, schon längst die Erforschung der menschlichen Hirnstrukturen und der kognitiven Prozesse erreicht. Man ist sehr erfolgreich darin. Wenn Sie also das nächste Mal wissen wollen, warum Sie nicht von einer Netflix-Serie lassen können, sollten Sie etwas aus dem Gebiet der Neurophysiologie lesen.
Das Wissen über die Art, wie Geschichten funktionieren, blieb jedoch nicht in der Filmindustrie. Es wurde von der Literatur übernommen, die Wirtschaft wandte es an, die Politik und schließlich auch der Journalismus. Dort nennt man diese Disziplin »Storytelling«, und sie wird an den einschlägigen Schulen intensiv unterrichtet. Dieses Interesse ist nachvollziehbar – doch ist es für einen Journalisten auch legitim? Die Antwort eines Medienschaffenden lautet: gewiss, solange sich die Geschichten an die Tatsachen halten. Aber wie wir gesehen haben, beginnt eine Geschichte nicht mit den Tatsachen, sondern mit ihren Verknüpfungen, und diese sind zu guten Teilen eine Erfindung, die nur einen einzigen Zweck verfolgt: den Leser bei der Gurgel packen, wie Billy Wilder gesagt hätte.
Wie dieses Wissen angewendet wird, zeigt sich jeden Tag in Dutzenden, wenn nicht Hunderten Zeitungsartikeln. Nehmen wir ein beliebiges, nicht weit hergeholtes Beispiel: eine Reportage, die in der Online-Zeitung »Die Republik« erschienen ist und von einer Radrennfahrerin handelt. Im Einführungstext steht zu lesen: »Nicole Reist gewann das Race Across America – und sah um sich herum nur Leere.«
Die Autorin hat ihre Lektion in Storytelling gut gelernt. Wie beim Beispiel mit der Frau und der Pistole weiß sie, dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit weiterlesen werde, weil ich wissen muss, in welcher Weise diese beiden Tatsachen miteinander in Verbindung stehen. Aus evolutionären Gründen will mein Hirn nicht ausschließen, dass auch ich eines Tages das Race Across America bestreiten könnte, und dann wäre es besser, etwas über diese Leere zu wissen. Also: Sah Nicole Reist die Leere, weil sie am Race Across America teilgenommen hatte? Oder weil sie als Siegerin durchs Ziel fuhr? Hätte sie die Leere nicht gesehen, wenn sie den zweiten Platz gemacht hätte? So lange ich das nicht überprüfen kann, bin ich gezwungen weiterzulesen. Das Raffinierte dabei: Auch die Reportage wird diese Frage nicht beantworten, denn dazu müsste sie die Situation reproduzieren können. Das funktioniert nur im wissenschaftlichen Modell. Im Experiment kann man eine Situation mit sämtlichen relevanten Parametern reproduzieren. Doch in der Wirklichkeit funktioniert das nicht. Das strebt die Autorin aber auch gar nicht an, im Gegenteil: Die Tatsachen sollen unüberprüfbar bleiben, damit sie meine Aufmerksamkeit erzwingen. Nur so packt mich eine Geschichte. Nur so lässt sie mir im Grunde keine Wahl, keine Freiheit. Denn wie nennt man eine Geschichte, die besonders mächtig ist, die mich keinen Augenblick loslässt? Man nennt sie fesselnd.
Was sind die Gründe für das schwindende Vertrauen in den Journalismus? Für viele Medienschaffende liegt die Antwort auf der Hand: Politische Kräfte attackieren die Glaubwürdigkeit, um ihre Unabhängigkeit zu beschneiden. Das ist zweifellos richtig – und das ist zweifellos der Fall, seit es die Presse gibt. Die Mächtigen mögen keine Zeitung, die sie nicht selbst kontrollieren.
Ein Teil der Verantwortung für den Vertrauensverlust fällt allerdings auf die Medien selbst zurück. Die Macht der Geschichten ist groß, und Dramaturgie ist eine wirkungsvolle Droge. Der Journalismus hat sie in den letzten Jahren in gewaltigen Schlucken getrunken, er ist davon süchtig und krank geworden. Die Medien meinten, mit ihrem Storytelling die Aufmerksamkeit der Leser gewinnen zu können, aber sie haben sich den Methoden des Marketings übergeben. Der Fall um Claas Relotius, ein Reporter beim Nachrichten-Magazin DER SPIEGEL, der über Jahre Geschichten erfand und sie Reportagen nannte, ist die Nemesis dieser Entwicklung. Sein ausgezeichnetes Storytelling vernebelte selbst in der legendären Dokumentation, die jeden Bericht auf Herz und Nieren prüft, den Blick auf die Prämisse des Journalismus: Er soll keine Geschichten erzählen. Er soll Tatsachen berichten.