Die Krone der Schöpfung. Lukas Bärfuss
können. Allerdings könnte es sein, dass dieser Vorschlag zu spät kommt. Im Zuge der neurophysiologischen Forschung und im Windschatten des Triumphes der Evolutionstheorie haben jene, die Geschichte nicht nur lesen, sondern schreiben wollen, längst begriffen, dass die menschliche Vorstellungskraft das Kriterium der Wahrheit nicht braucht, um sich ein Bild von der Wirklichkeit zu machen. Nur die Anschaulichkeit, die Plausibilität, oder, um wieder eines der entlarvend schönen Worte der deutschen Sprache zu benutzen, die »Glaubwürdigkeit« entscheidet letzten Endes über die Wirkungsmacht einer Erzählung, und es ist einerlei, ob es eine literarische, eine politische oder eben eine historische Erzählung ist. Alleine der Status des Erzählers entscheidet, welchen Wert seine Erzählung hat, ob ich sie als wahr betrachte oder nicht. Gerade deshalb hat sich meine Generation dringend zu fragen, wie sie mit dem Verlust der letzten Zeugen der Shoah umgehen will. Und wir erleben gerade, dass allenthalben versucht wird, die Deutungslücke, die sich durch dieses Verschwinden ergibt, ideologisch zu besetzen. Die Rekapitulation der bisherigen Positionen wird die Tradierung nicht sicherstellen, ebenso wenig die verständlichen, aber nutzlosen Abgrenzungsversuche zwischen Fakt und Fiktion, Literatur und Geschichtswissenschaft. Jede Empfindung für Wahrheit und für Wirklichkeit bedarf nicht zuerst des Wissens, sie bedarf des Vertrauens. Um dieses Vertrauen haben wir uns zu bemühen, die eigene Glaubwürdigkeit sollten wir pflegen, als Individuen und als Institutionen, weder die Offenlegung unserer Mittel noch das Eingeständnis ihrer Beschränktheit dürfen wir scheuen, wir müssen uns selbst in aller Rücksichtslosigkeit kritisieren und dabei auf unsere Redlichkeit bestehen, als Schriftsteller, als Historiker, als Menschen.
Das Ulmensterben
Bevor ich mich einer bestimmten Art der Ascomycota widme, will ich die Aufmerksamkeit kurz einer Sache zuwenden, die mich seit einigen Jahren immer wieder beschäftigt. Sie betrifft eine gewisse literarische Form, die weit verbreitet ist und der ich neulich in einer Kurzgeschichte begegnet bin. Als mir am Ende eines langen und arbeitsreichen Tages nach leichter Zerstreuung war, fiel mein Blick im Bücherregal zufällig auf einen Band, den ich vor zwölf oder mehr Jahren aus der Wühlkiste meiner Buchhandlung gefischt, bisher aber nicht gelesen hatte. Auf drei Dutzend Seiten lernte ich jetzt eine junge Frau kennen, die mit ihrer asthmatischen Schwester in einer namenlosen Provinz lebt. Die Eltern längst tot, die Aussichten auf eine Heirat gering mit täglich abnehmender Tendenz, entkommt sie der Enge ihres Daseins nur durch Theateraufführungen, die sommers in einer nahe gelegenen Stadt gegeben werden. Jedes Jahr besucht die Frau diese Vorstellungen mit glühendem Herzen und lässt die kranke und argwöhnische Schwester derweil einen Sonntagnachmittag alleine.
Nach einer Vorstellung von Shakespeares »As You Like It« und mit dem Kopf noch bei Rosalind und Orlando im Wald von Arden, vergisst unsere Heldin in der Toilette des Theaters ihre Handtasche. Geld, Fahrkarte, Schlüssel: unauffindbar. Tränen, Angst, Verzweiflung; die Heldin nun an jenem Punkt, den man in Hollywood Plot Point nennt.
Auftritt Hund, Rasse Dobermann, er hat sich losgerissen, daher gefolgt von einem Mann. Kurzer Dialog auf den Treppen des Theaters, danach Spaziergang in seinen Laden, in dem der Mann werktags Uhren repariert. Er serviert der jungen Frau nun ein karges, aber schmackhaftes Mal aus Gulasch und Rotwein, das als frugal zu bezeichnen die Autorin vermeidet. Geplauder über dieses und jenes. Während der Dobermann artig in einer Ecke wartet, stellt sich bald eine Vertrautheit ein. Später am Abend begleitet der Mann sie zum Bahnhof, wo er ihr die Karte für die Rückfahrt kauft. Beim Abschied auf dem Schotter am Ende des Bahnsteigs schenkt er ihr den ersten Kuss ihres Lebens und nimmt ihr das Versprechen ab, nach Ablauf eines Jahres dasselbe grüne Kleid anzuziehen, den gleichen Zug zu besteigen und seinen Laden mit den Uhren aufzusuchen. Was dort geschehen soll, wird nicht gesagt, aber die Aufregung, die das arme Wesen nun die nächsten zwölf Monate auf Trab hält, lässt vermuten, dass die Verheißung nicht in einem weiteren Teller des ungarischen Rindereintopfs besteht.
Man liest mit angehaltenem Atem und will wissen, ob die Heldin ihren Uhrmacher tatsächlich wiederfindet, wie sie es ihrer hilflosen und asthmatischen Schwester beibringen und welcher Art das Unglück sein wird, das unweigerlich zuschlagen muss. Glücklich enden diese Geschichten nie. Die Erzählung übrigens ist äußerst geschickt und sorgfältig gebaut, und so sehr ich die Autorin für ihre Handwerkskunst bewundere, scheint mir diese Erzählung ein prototypisches Beispiel für einige der grundlegenden und potenziell tödlichen Gefahren der zeitgenössischen Literatur zu sein, die, wenn sie sich nicht von diesem stilistischen Efeu befreit, daran ersticken wird.
Damit man mich richtig versteht: Es liegt nicht an dieser spezifischen Geschichte. Sie steht nur als Exempel. Man findet dieselbe Manier bei allen Erzählungen dieser Autorin, die übrigens mit einigen hohen, ja den höchsten Ehrungen ausgezeichnet wurde. Das Problem beschränkt sich gleichfalls nicht auf diese Autorin. Wäre dies der Fall, würde ich keine Zeit damit verlieren, denn es müsste genügend Auswahl geben, um auch für meinen Geschmack das Passende zu finden. Nein, dieses Genre und seine Konventionen haben mittlerweile eine horizontale, vertikale und folglich hegemoniale Verbreitung gefunden. Nur deshalb nehme ich mir Zeit und Mühe, um in aller Kürze und bevor ich auf das eigentliche Thema komme, das Problem in seinen Grundzügen darzulegen.
Zuerst: Diese Literatur überlässt der Psychologie das alleinige Primat. Die sozialen, ökonomischen, politischen Bedingungen der handelnden Figuren werden höchstens nebenbei erwähnt und im Ungefähren belassen. Die erzählerische Anstrengung gilt dem Versuch, die Grenze des Mentalen zu überschreiten und das Problem der Qualia für einen Augenblick aufzuheben. Bekanntlich weiß niemand, wie es ist, ein anderes als das eigene Bewusstsein zu besitzen, und jeder Versuch, diese erkenntnistheoretische Grenze zu überwinden, gehört in den Bereich des Fantastischen, eine Eigenschaft, die deshalb wesensmäßig zu dieser Art von Literatur gehört.
So führt sie in der Regel eine beliebige Person ein und beginnt, diese so lange ihrer gesellschaftlichen Hüllen zu entkleiden, bis sie nackt vor uns steht. Und wie weiland die Leichen im anatomischen Theater, so liegen alsbald diese Heldinnen vor uns, und wie der Präparator dort die Muskeln, Gewebe und Nerven, geht die Erzählerin hier nun daran, die Wünsche, Begierden, Gedanken und Affekte dieser Heldin freizulegen. Die Erzählerin besitzt zu diesem Zwecke ein literarisches Seziermesser, mit dem sie jede Schutzschicht wie etwa Selbsttäuschung, Lebenslügen und falsches Gerede beiseiteschafft – und sie verfügt darüber hinaus über einen fantastischen Röntgenapparat, der das unsichtbare Geschehen aufzeichnet und ins Bild rückt. So wandelt diese arme Heldin nach wenigen Seiten seziert und bis auf die Knochen entblößt durch ihre provinzielle Existenz. Den Augen der fiktiven Figuren bleiben diese Vivisektionen hingegen verborgen. So heißt es etwa in jener Erzählung über unsere Heldin: »Die Mühe, die sie darauf verwendet hat, es geheim zu halten, war vielleicht gar nicht erforderlich, angesichts der Meinung, die die Leute sich von ihr gebildet haben – die Leute, die sie jetzt kennt, irren sich darin genauso gründlich wie die Leute, die sie vor langer Zeit kannte.«
Man braucht hier nicht zu wissen, was diese Person geheimhalten will oder muss, und es ist ebenfalls einerlei, worin die Leute irren: Entscheidend ist die deutliche und unüberbrückbare Trennung zwischen dem Wissen der Leserin und jenem der Figuren. Nur wir Leser erkennen sie als zerfledderten Rest einer pathologischen Untersuchung. Alle anderen, ob Protagonist oder Antagonist, haben davon keine Ahnung und behandeln sie auch weiterhin wie eine der ihren.
Natürlich findet diese Behauptung keine Grundlage in der Wirklichkeit. So wie in Schauergeschichten Vampire empfindlich gegen Sonnenlicht sind und in der Science-Fiction Raumschiffe schneller als das Licht reisen, handelt es sich um eine Konvention des Genres. Während sich dort der Leser niemals fragt, ob diese Behauptung in den Bereich der Wirklichkeit oder der Hirngespinste gehört, behauptet dieses Genre einen Realismus, eine dokumentarische Haltung. Niemals bringt diese Literatur ihre eigene Fantastik zum Bewusstsein. Hier wird nichts erschaffen und nichts konstruiert, hier wird bezeugt, und deshalb unternimmt diese Belletristik alles, um den Anschein der Natürlichkeit zu bewahren und ihre Künstlichkeit zu verbergen. Sie kaschiert jede Nahtstelle und hängt die Mechanik ab. Ihre Instrumente, Retuschierpinsel und Concealer, versteckt sie schamhaft, und obwohl gerade in der Fabriziertheit ihre Kraft liegen würde, fürchtet sich diese Erzählform