Die Krone der Schöpfung. Lukas Bärfuss
sind. Unbekannte Tatsachen haben die Kraft, die Welt von Grund auf zu verändern, und die Nachricht, die als erste vermeldet, dass außerirdisches Leben existiert, braucht kein Storytelling. Leider ist es viel teurer und aufwändiger, unbekannte Tatsachen zu beschaffen, als eine Geschichte zu erzählen. Der Kostendruck hat die unheilvolle Entwicklung zu immer mehr Storytelling angeheizt.
Viele Menschen glauben, Geschichten seien harmlos, sonst würde man sie Kindern nicht vor dem Schlafengehen erzählen. Häufig nehmen wir Geschichten nicht ganz ernst. Das zeigt sich in den Eigenschaftswörtern, die wir dem Begriff beistellen. Wir sagen: eine kleine Geschichte, eine lustige Geschichte, eine blöde, vielleicht auch eine traurige Geschichte. Das alles können Geschichten sein, vor allem aber sind sie mächtig. Nichts beherrscht und formt den Menschen wie seine Geschichten. Der Mensch kennt Geschichten, die viele tausend Jahre alt sind. Jede Macht trägt eine Gefahr in sich, und tatsächlich gibt es sehr gefährliche Geschichten. Jede politische Idee, jede Religion, jede Sekte, jede soziale Struktur, die Menschen beherrscht, erfindet für ihre Mitglieder zuerst eine Geschichte. Sie halten Nationen zusammen, lassen sie Kriege führen, machen Gläubige friedlich oder fanatisch.
Deshalb hat jeder, der Geschichten erfindet, eine große Verantwortung. Die Welt ist die Summe der Tatsachen, wie gesagt, und hier nun eine Sache, die sich jeder Journalist über den Schreibtisch hängen sollte: Eine Geschichte, die in der Welt ist, wird selbst zur Tatsache. Das ist das Gefährliche an ihr. Die Geschichte über die Radrennfahrerin gehört dazu, und es wird nun immer die Verbindung hergestellt werden zwischen dem Sieg und der Leere. Obwohl das eine mit dem anderen möglicherweise nichts zu tun hat.
In den letzten Jahren wurde viel über Fake News gestritten. Aber das ist die falsche Diskussion. Die menschliche Vorstellungskraft unterscheidet nicht nach Wahrheit oder Lüge. Sie urteilt nach anderen Kategorien: Anschaulichkeit und Grad affektiver Beteiligung. Geschichten, die einmal den Weg in unser Bewusstsein gefunden haben, ob Lüge oder nicht, bleiben darin, sofern sie nicht vergessen werden. Auch darum hat man ihre Macht eingehegt und ihnen bestimmte Räume zugewiesen, im Theater, im Roman, im Kino. Die Religionen, die die Macht der Geschichten am stärksten ausgenutzt haben, hat man in ihre Schranken gewiesen, aber wir leben in einer Zeit, in der viele Geschichten entwichen sind und sich in Gebieten ausbreiten, wo sie Schaden anrichten. Das Storytelling macht den Journalismus unsicher, die Politik und sogar die Universitäten richten Abteilungen für Storytelling ein. Es wäre an der Zeit, sich zu überlegen, wie man diese wilden Rosse wieder einfängt, bevor sie alle Zäune niedergerissen haben.
Wahrheit und Wirklichkeit
1.
Die Wahrheit ist in vieler Munde. Es sollte uns beunruhigen, denn es bedeutet, dass sie in umso weniger Herzen ist.
2.
In der ersten Ausgabe von »Historische Urteilskraft«, dem Magazin des Deutschen Historischen Museums Berlin, setzt Daniel Kehlmann in einem Text mit dem Titel »Geschichten erzählen, Geschichte erzählen«[6] seine Arbeit als Schriftsteller der Arbeit eines Historikers gegenüber und zieht eine deutliche Grenze. Während der Historiker herausfinden solle und wolle, was geschehen sei, würde er, der Dichter, lügen und erfinden. Trotzdem sei auch er auf der Suche nach der Wahrheit. Die entscheidende Frage, die Kehlmann selbst stellt, aber nicht beantwortet, lautet: Gibt es verschiedene Wahrheiten, wovon eine nur dem Lügner, also dem Schriftsteller, zugänglich ist? Weil Kehlmann einer Antwort ausweicht, stellen sich plötzlich weitere Fragen: Warum, zum Beispiel, verspürt der Schriftsteller die Notwendigkeit, diese Unterscheidung zu treffen? Will er die Reputation der Geschichtswissenschaft retten, indem er das Feld der einen Disziplin, die Fakten, von jenem der anderen, die Fiktion, sauber trennt? Oder sucht er für sich selbst, als Schriftsteller, einen Raum, wo er seine Literatur vor weltanschaulichen Anwürfen in Sicherheit bringen kann? Aber die Probleme des einen Gewerbes können ebenfalls und gleichzeitig die Probleme des anderen darstellen, und es müsste mittlerweile deutlich sein, dass die ideologischen Kämpfe im Nachgang der Postmoderne nicht befriedet werden können, wenn wir einfach die Felder der Disziplinen abstecken und hoffen, dass niemand die Grenzen verletzt und Konterbande betreibt.
3.
Vor einiger Zeit behauptete eine Philosophin im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dass es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben habe. Was wir unter diesem Begriff zusammenfassten, so meinte sie, zerfalle in unzählige Einzelereignisse. Es sei eine unzulässige Verkürzung, die Komplexität der Wirklichkeit in einen einzigen Begriff zu fassen. Ferner habe kaum ein Zeitgenosse dieses Wort damals verwendet. Und schließlich würde der Zweite Weltkrieg in anderen Kulturen anders genannt, so heiße der Deutsch-Sowjetische Krieg in Russland »Der Große Vaterländische Krieg«.
Es handelt sich dabei nicht um eine Sophisterei unter Akademikern, vielmehr um einen Ausläufer der Turbulenzen, die den Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts aus dem Gleichgewicht bringen. Nach wie vor finden sich Trümmer des zwanzigsten Jahrhunderts, die man sich bei Gelegenheit an den Kopf wirft, und man fürchtet, die Kontrahenten in der Auseinandersetzung um die kulturelle Hegemonie könnten irgendwann zu wirkungsvolleren Flugobjekten greifen.
4.
Einerlei, ob sich jemand Schriftsteller oder Historiker nennt, und gleichgültig, welche Mittel und Instrumente er bei der Ausübung seiner Tätigkeit benutzt, ob sie nun Quellenkritik oder erlebte Rede heißen, die Vergangenheit ist niemandem zugänglich. Aus dieser Verschlossenheit definiert sie sich. Sie ist das, was war, in Abgrenzung dessen, was ist und was sein wird. Diese allgemeine, alltägliche Erfahrung verdeckt nur eine grundsätzlichere Tatsache: Was sich uns durch das Wissen tatsächlich nicht erschließt, ist die Wirklichkeit als solche, gerade auch jene, die sich in der Gegenwart vollzieht. Dies beweist der Umstand, dass sich die Vergangenheit auch dann nicht erschlösse, wenn wir sie auf die gleiche Weise erfahren könnten wie die Gegenwart. Sie wäre nur eine weitere Gegenwart und die Gleichzeitigkeit unzähliger Ereignisse, deren Zusammenhänge uns zum überwiegenden Teil verborgen blieben. Und weiter: Selbst wenn sich sämtliche dieser Ursachen einem bestimmten Bewusstsein erschlössen, könnte ich sie nicht darstellen, denn das wäre gleichbedeutend mit einem totalen Abbild der Wirklichkeit, das dann, per definitionem, von dieser Wirklichkeit ununterscheidbar wäre. Ein absurder Gedanke, gleichwohl wurde und wird dieses totale Abbild versucht. Es gibt eine beinahe kindliche Sehnsucht, eine Vorstellung, dass man sich der Vergangenheit nähern könne, indem man den Aufwand und die Zahl der dargestellten Ereignisse erhöht. Hollywood erliegt ihr immer wieder. Aber nur, weil man Kriegsschiffe in den Ärmelkanal bringt und mit Tausenden von Komparsen den 6. Juni 1944 darstellt, versteht man den D-Day nicht besser. Aber die Entwicklung der technologischen Illusionsmöglichkeiten hat zu einem Verlust dieser lapidaren Einsicht geführt.
5.
Die Wirklichkeit bleibt mir verschlossen, aber das bedeutet nicht, dass es sie nicht geben würde. Dasselbe gilt für die Vergangenheit, oder, präziser formuliert, für ein beliebiges Ereignis in der Vergangenheit. Die Wirklichkeit zu verstehen würde bedeuten, ihre Unermesslichkeit zu verstehen. Ihre Unermesslichkeit definiert sich durch die Unbeschränktheit der Ursachen, die zwischen den Ereignissen wirken können. Auf welche Art die Ursachen wirken, kann ich untersuchen. Aber die größte Zahl dieser Ursachen liegt hinter meinem Informationshorizont. Ich weiß einfach nichts davon. Was sich hinter der nächsten Hausecke ereignet, sehe ich nicht. Und der Hausecken gibt es viele.
Je mehr Ursachen ich kläre, umso deutlicher wird die erkenntnistheoretische Lücke zwischen meiner Erfahrung und der Wirklichkeit. Man hat das Wissen eine Kugel genannt, die im Ozean des Unwissens schwimme. Mit jedem Erkenntnisgewinn wird sie größer, und daher nimmt die Oberfläche und ihr Kontakt mit dem Unwissen zu.
Die Wirklichkeit wird nicht verstanden, die Wirklichkeit wird zuerst empfunden. Wenn ich die Umstände der Heirat zwischen Carlos II von Spanien und Marie Louise d’Orléans klären will, kann ich die Quellen des Jahres 1679 sammeln und zum Beispiel versuchen, die Rolle der Kirche und der Inquisition anhand der Dokumente zu