Der Fall Deruga. Ricarda Huch
halten können. Er, der Schneider, habe nur hochfeine Kundschaft und sei deshalb in diesem Punkte nicht leicht zu täuschen. Deruga sei viel zu kordial im Verkehr mit seinen Angestellten gewesen und habe zuweilen mit ihm, dem Schneider, Späße gemacht, die er in Gegenwart seiner Angestellten, des Respekts wegen, nicht gerne angehört hätte. Seine diesbezüglichen Andeutunggen habe Deruga nicht verstanden. Er habe Deruga daher auch halbjährliche Rechnungen geschickt, während er den feinen Kunden nur jährliche schickte. Deruga sei ihm seit zweieinhalb Jahren eintausend Mark schuldig, das sei nicht viel, und er würde einem feinen Kunden gegenüber kein Aufheben davon machen; es könne ihm aber natürlich nicht gleichgültig sein, wenn es sich um einen Mann mit zweifelhaftem Charakter handle.
Auf die Frage, ob Deruga ihm gegenüber von einer zu erwartenden Erbschaft oder sonst von Geldquellen gesprochen hätte, die ihm zur Verfügung ständen, sagte der Schneider mit vornehmer Zurückhaltung, Deruga habe sehr viel geschwatzt, es könnten auch derartige Worte gefallen sein; er befolge aber seit Jahren den Grundsatz, die privaten Mitteilungen, die seine Kunden ihm machten, weder zu wiederholen noch zu behalten, und sei deshalb gar nicht mehr imstande,sie sich zu merken. Vollends wären ihm die Redereien Derugas viel zu belanglos vorgekommen, als daß er sein Gedächtnis damit belastet hätte.
Der Friseur betonte mit Feuer, daß Deruga ohne Zweifel die ihm ausstehende Schuld bezahlt haben würde, wenn er ihn jemals gemahnt hätte. Deruga sei ihm aber viel zu teuer gewesen, ein Mann nach seinem Herzen, genial und edel, den zu bedienen er sich immer zur Ehre angerechnet habe. Sein Auge dringe den Menschen bis ins Innerste, er lasse sich nie durch Scheingrößen blenden, und das Geringste mißachte er nicht. „Und wenn er mir nie einen Pfennig bezahlte, meine Herren“, rief der Friseur mit Schwung aus, „ich würde ihm stets meine ganze Kraft weihen und nie aufhören zu sagen, das ist ein großer Mann.“
„War Deruga bei Ihnen“, fragte der Vorsitzende, „nachdem er von der Erbschaft in Kenntnis gesetzt worden war?“
„Ich darf mir schmeicheln, der erste gewesen zu sein“, sagte der Friseur, „dem der Herr Doktor sein Herz über dieses Ereignis ausschüttete. ,Nun werde ich dich königlich belohnen‘, sagte er zu mir, ,denn du verdienst es sowohl wegen deiner Kunst wie wegen deiner anständigen Gesinnung.‘ Herr Doktor pflegte mir nämlich zuweilen, wenn er stark in Stimmung war, das trauliche Du zu geben. Ich erwiderte, mit der Bezahlung solle er es halten wie er wolle, nur seine Kundschaft solle er mir nicht entziehen. ,Da kennst du Deruga schlecht‘, rief er aus, ,meinst du, ich unterschätze dein Kabinett, weil es in einem Seitengäßchen liegt und keine goldenen Spiegel und von denkenden Künstlern entworfene Stühle darin sind? Und wenn ich Kaiser von China würde, auf diesem schäbigen, aber bequemen Sessel, von deiner Meisterhand würde ich mich rasieren lassen. Ich hasse und verabscheue das Geld, und wenn ich es nicht brauchte, um das Ungeziefer, Menschen genannt, mir vom Leibe zu halten, würfe ich die ganze Erbschaft in den nächsten Straßengraben.“
Der Staatsanwalt schüttelte mit verzweifeltem Hohnlachen den Kopf. Quosque tandem? stand auf seinem Gesicht geschrieben; schreit sein Lästern noch nicht genug zum Himmel?
„Kam der Angeklagte täglich zu Ihnen?“ fragte der Vorsitzende.
„Ich darf wohl sagen, im allgemeinen täglich“, erwiderte der Friseur. „Sowohl ich selbst wie meine Kunden vermißten ihn aufs schmerzlichste, wenn er einmal ausblieb.“
„Erinnern Sie sich, ob er am 2. und 3. Oktober des vorigen Jahres ausblieb?“
„Ich erinnere mich“, sagte der Friseur, „daß ich ihn im Spätsommer oder Herbst einmal ein paar Tage lang nicht sah. Das Datum habe ich mir aber nicht gemerkt.“
„Sie erinnern sich auch nicht, was er, als er wiederkam, als Grund seines Ausbleibens angab? Wie Sie mit ihm standen“, setzte Dr. Zeunemann in etwas strengerem Tone hinzu, „ist anzunehmen, daß Sie ihn danach fragten.“
„Ich erinnere mich allerdings“, erwiderte der Gefragte, „daß ich es unterließ, ihn zu fragen, weil er schweigsam und in sich gekehrt war. Ich bin nach meinem Beruf nur Friseur“, setzte er mit Hoheit hinzu, „aber mir ist so viel Takt angeboren, daß das Vertrauen eines edlen Menschen mich nicht zudringlich macht, und daß ich fühle, wann Heiterkeit und wann Ernst am Platze ist. Gerade den Herrn Doktor habe ich nie ausgehorcht und zum Reden anzustacheln versucht, wenn er in sich versunken oder umwölkten Mutes zu sein schien.“
„Was für Vermutungen“, fragte der Vorsitzende weiter, „hatten Sie denn bei sich über das Ausbleiben des Angeklagten und über seine ungewöhnlich ernste Stimmung?“
„Gar keine“, sagte der Friseur, milde Mißbilligung und Belehrung im Ton, „ich erlaubte mir gar keine. Dr. Zeunemann gab es auf und wollte den Zeugen eben entlassen, als der Staatsanwalt noch eine Frage an ihn richten zu wollen erklärte.
„Hat der Angeklagte im Spätsommer des vorigen Jahres oder noch früher eine Perücke oder einen falschen Bart oder beides bei Ihnen gekauft oder geliehen?“
„Ich bedaure“, sagte der Friseur mit höflich schadenfrohem Lächeln, „aber dergleichen Artikel führe ich nicht. In einem kleinen, bescheidenen, abgelegenen Geschäft wie dem meinigen, lohnt sich das nicht.“ Es war schon eine vorgerückte Abendstunde, und der Vorsitzende hob die Sitzung auf. Als der Justizrat die Hand auf die Schulter Derugas legte, der mit aufgestütztem Kopfe dasaß, fuhr dieser herum und sah den andern mit blinzelnden Augen unsicher an.
„Ich glaube, weiß Gott, Sie haben geschlafen?“ fragte der Justizrat zwischen Staunen und Entrüstung. „Ich glaube auch“, sagte Deruga; „das letzte, was ich sah, war der Kerl, der Schneider. Der ekelte und langweilte mich so, daß ich die Augen zumachte, und da war ich sofort weg. Ich habe mir das in meiner Universitätszeit angewöhnt, wo ich oft sehr müde war. Ich konnte stundenlang während der Vorlesungen schlafen, ohne daß es jemand merkte, ausgenommen mein Freund Carlo Gabussi, der neben mir saß. O traurige Jugend und süße Erinnerung!“
II
Die Sitzung des nächsten Tages eröffnete Dr. Zeunemann mit der Erklärung, eine Zeugin, die aus Ragusa gekommen sei, habe gebeten, sofort vernommen zu werden, damit sie möglichst bald zu ihrer Familie zurückreisen könne. Er habe um so weniger Anstoß genommen, ihrer Bitte zu willfahren, als er sie nicht für wichtig halte und sie nur auf Ansuchen des Verteidigers zulasse. Immerhin werde man von ihr Aufschlüsse über die Beziehungen des Angeklagten zu seiner geschiedenen Frau während der ersten Zeit seiner Ehe erhalten.
Auf seinen Wink trat eine mittelgroße Dame ein, die mit einer ziegelroten Schabracke behängt war und auf ihrem brandroten, in vielen Tollen und Puffen aufgesteckten Haar einen großen, von einem Niagarafall weißer und blauer Straußenfedern überstürzten Hut trug. Sie trat ein paar Schritte vorwärts, blieb dann stehen und sah mit suchenden Blicken um sich, ein erwartungsvolles Lächeln auf den Lippen. Augenscheinlich hatte sie sich den Platz des Angeklagten beschreiben lassen, denn dort blieb der Blick hängen, ohne zunächst durch das Ergebnis seiner Forschung befriedigt zu werden.
Plötzlich indessen stieß sie einen Schrei aus, rief mit kreischender Stimme: „Dodo!“ und lief mit ausgestreckten Armen auf Deruga zu. Sie hatte ihn jedoch nicht erreicht, als der Gerichtsdiener, der sie hereingeführt hatte, ihrer habhaft wurde und sie vor den kleinen Tisch im Angesicht der versammelten Richter stellte, wo sie den Eid zu leisten hatte.
„Entschuldigen Sie“, sagte sie schluchzend, indem sie ihr Taschentuch hervorzog, „aber das war zu viel für mich. Dies Wiedersehen nach so viel Jahren! Die Veränderung! Und im Grunde doch dasselbe liebe, närrische Gesicht! Wenn Sie mir eine Pfanne mit glühenden Kohlen herstellten, Herr Präsident, so schwöre ich Ihnen, ich halte die Hand hinein, um seine Unschuld zu beweisen!“
„Die Sache ist leider nicht so einfach“, sagte Dr. Zeunemann mit wohlwollender Überlegenheit. „Hingegen können Sie uns unsere Arbeit sehr erleichtern und dem Angeklagten nützen, wenn Sie, was Sie zu sagen haben, kurz, klar und folgerichtig sagen. Sie heißen Rosine Schmid, geborene Vogelfrei, sind Hauptmannsgattin und vierundvierzig Jahre alt?“
„Jawohl“, sagte die Dame, „ich gehöre nicht zu denjenigen Frauen, die