Die Vögel. Tarjei Vesaas

Die Vögel - Tarjei Vesaas


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beinahe wie ein Mord. Darum tut der das nicht.

      Den Mann will ich mal sehen, dachte Mattis. Aber er kommt nie her.

      Mattis dachte weiter:

      Wie das wohl im Kopf von dem aussieht, der sich diesen Namen für die beiden Bäume ausgedacht hat, so zum Spaß? Wer weiß. Man konnte nur an Sommerabenden auf der Eingangstreppe sitzen und darüber nachgrübeln. Aber ein Mann war es sicher. Mattis mochte sich nicht vorstellen, dass es eine Frau war, Frauen war er freundlich gesinnt. Außerdem ärgerte es ihn, dass Hege mit einem vertrockneten Baum verglichen wurde, das passte doch überhaupt nicht! Jeder konnte das sehen. Und so was über die Hege, die so schnell im Kopf und klug ist –

      Was tut da nur so schlimm weh?

      Das weißt du, antwortete etwas, eine irgendwie nichtssagende Antwort, aber die Wahrheit war es doch.

      Man sollte nicht hinsehen, sich wegdrehen – stattdessen schaue ich hin, morgens als Erstes und abends als Letztes, bevor ich ins Bett gehe. So was von verkehrt.

      »Mattis?«

      Er schrak aus seinen Gedanken auf.

      »Was siehst du?«, fragte sie.

      Er kannte ihre Fragen nur zu gut. Er sollte nicht so dasitzen, er sollte dies nicht und er sollte das nicht, er sollte so sein wie andere Leute, nicht der »Dussel«, wie sie ihn nannten, der zum Gespött wurde, wenn er irgendwo auftauchte und bei der Arbeit mitmachen wollte oder so.

      Rasch richtete er seine Augen auf die Schwester. Seltsame Augen. Immer verschreckt, scheu wie Vögel.

      »Ich seh nichts«, sagte er.

      »Aha.«

      »Du bist komisch«, sagte er, »würde ich jedes Mal was sehen, wenn ich mich umschaue – was wäre dann hier? Voll wäre es.«

      Hege nickte nur. Jetzt hatte sie ihn sozusagen zurückgeholt und konnte weiterarbeiten. Sie saß nie untätig auf der Treppe wie Mattis, sie hatte schnelle Strickfinger, und das war auch nötig.

      Mattis schaute voller Bewunderung auf ihre Arbeit, damit brachte sie etwas zu essen auf den Tisch, so knapp es auch sein mochte. Er verdiente nichts. Niemand wollte ihn haben. Sie nannten ihn Dussel und grinsten nur, wenn sein Name in einem Satz mit Arbeit fiel. Das beides passte nicht zusammen. Drüben in dem arbeitsamen Dorf wurden sicher viele Geschichten davon erzählt, wie es ging, wenn der Dussel Mattis was arbeiten wollte – es ging schief.

      Du mein Schnabel gegen Stein, dachte er urplötzlich – es durchzuckte ihn.

      Was?

      Aber es war weg.

      Das Bild und die Wörter schossen durch ihn hindurch. Und genauso schnell waren sie wieder weg – stattdessen dicht vor seinem Gesicht eine Wand.

      Rasch schaute er zu seiner Schwester. Sie hatte nichts bemerkt. Da saß sie, klein und hübsch, aber kein junges Mädchen mehr, sie war vierzig.

      Wenn er so was zu ihr sagte? Schnabel gegen – das würde sie nicht verstehen.

      Hege saß dicht neben ihm, also blickte er direkt in ihre glatten dunkelbraunen Haare. Plötzlich entdeckte er dazwischen das eine oder andere graue Haar. Lange Silberfäden.

      Habe ich heute Habichtsaugen?, wunderte er sich freudig, das ist mir noch nie aufgefallen. Ohne sich zu bedenken, rief er:

      »Hege, na so was!«

      Sie blickte rasch auf, erleichtert über den neuen Klang in seiner Stimme. Sie ging bereitwillig darauf ein:

      »Was ist denn?«

      »Du kriegst graue Haare!«

      Sie senkte den Kopf.

      »Ja.«

      »Schon so grau«, sagte er. »Das hab ich noch nie gesehen. Hast du das gewusst?«

      Sie antwortete nicht.

      »Das ist aber früh«, sagte er. »Du bist doch gerade erst vierzig. Und schon grau.«

      Da traf ihn von irgendwoher ein rascher Blick. Nicht von Hege. Von irgendwoher. Ein stechender Blick. Vielleicht doch von Hege. Erschrocken wurde ihm klar, dass er sich schon wieder vergriffen hatte, aber verstehen konnte er es noch nicht, er hatte doch nur etwas entdeckt mit scharfen Augen.

      »Hege.«

      Endlich blickte sie wieder auf.

      »Was ist denn schon wieder?«

      Nein, jetzt war, was er sagen wollte, schon wieder weg. Auch keine weiteren Blicke.

      »Nein, nichts«, sagte er. »Kannst weiterstricken.«

      Jetzt lächelte sie:

      »Na, dann ist ja gut, Mattis.«

      »Das war doch nicht schlimm, oder?«, fragte er. »Dass ich das mit den grauen Haaren gesagt hab?«

      Wie mit belustigtem Trotz schüttelte sie ihre Haare.

      »I wo! Das wusste ich doch.«

      Sie hatte die ganze Zeit mit ihren blitzenden Nadeln weitergestrickt. Die bewegten sich den ganzen Tag lang wie von selbst, fand er.

      »Ja, du bist so klug, messerscharf«, sagte er rasch, um die unpassende Bemerkung von eben auszugleichen.

      Da hatte er wieder so ein Wort angebracht, das leuchtend und verlockend vor ihm stand. Irgendwo warteten noch mehr so scharfkantige Wörter. Die waren nicht für ihn, aber manchmal benutzte er sie heimlich doch, sie fühlten sich gut an auf der Zunge und kribbelten im Kopf. Ein bisschen gefährlich waren sie alle.

      »Hast du gehört, Hege?«

      Sie seufzte:

      »Ja.«

      Kein Wort mehr. Nein, nein, so war sie nun mal. Hatte er sie vielleicht schon zu viel gelobt?

      »Trotzdem, ganz schön früh für graue Haare«, murmelte er so, dass sie es nicht hörte. Und bei mir? Mal nachsehen, solang ich dran denke.

      »Gehst du schlafen, Mattis?«

      »Nein, ich will nur …« Er wollte sagen, in den Spiegel schauen, aber er unterbrach sich. Ging hinein.

      3

      Erst als Mattis ins Haus ging, bemerkte er, was für ein schöner Abend es war. Der große See spiegelglatt. Die Hänge gegenüber am westlichen Ufer dunstverhüllt – wie auch sonst meist. Frühsommerduft. Auf der Landstraße, sie war von hier aus durch den Fichtenwald nicht zu sehen, surrten Autos wie zum Vergnügen. Und der Himmel war klar, diese Nacht würde es kein Gewitter geben.

      Mitten durch den Blitz, dachte er mit einem Schaudern.

      Mitten durch die Mitte, dachte er.

      Wer das könnte.

      Gedankenversunken stand er neben seiner Schlaftruhe.

      Von klein auf hatte Mattis in der Schlaftruhe in der Stube geschlafen – er durfte behaupten, dass er sie kannte. Und so wollte er es den Rest seines Lebens über halten, hatte er beschlossen. An der Bank waren Kerben von damals, als der junge Mattis ein Messer bekommen hatte. Auf dem rohen Holz waren auch verblasste breite Striche aus der Zeit, als er einen Bleistift bekommen hatte. Diese Striche und merkwürdigen Figuren saßen auf der Unterseite des Deckels, er betrachtete sie allabendlich beim Einschlafen, und er mochte sie, weil sie sich nie veränderten. Sie waren, was sie sein sollten. Er konnte sich auf sie verlassen.

      Hege schlief in der kleinen Schlafkammer hinten. Mattis riss sich los und ging hinein, denn dort hing der Spiegel. Er betrat ihre Kammer. Hier drin war ein sauberer Geruch, sonst nicht viel mehr. Und da war der Spiegel, den er jetzt brauchte.

      »Hm«, meinte er zu sich selbst, sobald er sich darin sah.

      Es war wirklich lange her, dass er sich so betrachtet hatte. Manchmal holte er sich den Spiegel von hier, wenn er sich rasieren wollte. Dann achtete er nur auf die


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