In den Streit der Welt …. Kai Horstmann

In den Streit der Welt … - Kai Horstmann


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Die „Wiederkehr der Religion“ ist theologisch und kulturwissenschaftlich wie sozialwissenschaftlich ein fraglos wichtiges Thema,32 das aber nicht mit großen Zahlen religiöse Bindung suchender Menschen einhergeht. Die Zahl derer, die konvertieren, ist überaus gering.33 Demgegenüber ist die Zahl der Konfessionslosen seit 1970 von 3,9% der Gesamtbevölkerung auf 37% im Jahr 2017 angestiegen.34 Angesichts dieser Zunahme ist es vielmehr angemessen, von einem „verlorenen Himmel“ zu sprechen.35 Religion ist für viele Menschen bedeutungslos geworden, ihnen fehlt jedes Verständnis für Religiosität.36

      Womit wir beim von Schlag ausgemachten Problem der zukunftsstrategischen Wachstumssemantik sind: Im „worst case“ könne im Zuge einer betriebswirtschaftlichen Betrachtungsweise der kirchlichen Organisation die reformatorische Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche als unverfügbarer creatura verbi aus dem Blick geraten. Der Kirche „Heiligkeit ist im Himmel, da Christus ist, und nicht in der Welt, vor den Augen, wie ein Kram auf dem Markt“, zitiert Schlag Martin Luther. Und nur wenn man das im Blick behält, könne die proklamatorische Wachstumssemantik als Hoffnungszeichen gewürdigt werden. Insbesondere „wenn die Rede von Führung und qualitativen geistlichem Wachstum durch eine vermeintlich eindeutige pneumatologische Grundierung gleichsam der Reflexion entzogene theologische Sprachspiele überführt wird, droht die Faktizität unterschiedlicher Interpretationsmöglichkeiten der evangelischen Botschaft eher unterlaufen als befördert zu werden.“ (90).37

      Schlag verweist mit Recht auf den ökumenischen, insbesondere anglikanischen und evangelikalen Kontext, dem viele Initiativen und Konzepte des Gemeindewachstums entstammen. Von diesen angeregt und dann befördert hat das von Michael Herbst Ende der 80er Jahre entwickelte Konzept des Missionarischen Gemeindeaufbaus seit der EKD-Synode 1999 mit dem Schwerpunkt-Thema „Reden von Gott in der Welt – Der missionarische Auftrag der Kirche an der Schwelle zum 3. Jahrtausend" in einem Maß Wirksamkeit entfalten können, das vor wenigen Jahren noch unvorstellbar war. Missionarisch Volkskirche sein, so die Leitvorstellung der Evangelischen Kirche im Rheinland aus dem Jahr 2010, scheint als Mittel gegen den Mitgliederschwund probat,38 weil das missionale39 Bemühen um neues Wachstum und das organisationstheoretische Bestreben einer Überwindung der Milieuverengung der Kirche übereinzustimmen scheinen. Der Unterschied zwischen dem Missionarischen Gemeindeaufbau und der Theologie kirchlicher Organisation aber ist keineswegs marginal. Dies herauszuarbeiten legt sich, wo es um den Wachstumsgedanken geht, weiterhin die Auseinandersetzung mit Michael Herbsts Dissertation zum Missionarischen Gemeindeaufbau in der Volkskirche nahe.40

      Das Buch41 wird getragen von dem heute eben nicht mehr nur in konservativen und besonders auch in evangelikal-freikirchlichen Kreisen verbreiteten abgrenzenden Vorwurf, die Kirche habe die Wahrheitsfrage und damit sich selbst im Interesse größtmöglicher Offenheit aufgegeben.42 So findet sich bei Herbst immer wieder Kritik an einer Identifikation der Masse der Christianisierten mit der Gemeinde Jesu Christi. Evangelisation als die „Sendung der Gemeinde an getaufte Menschen“ ist das zentrale Anliegen Michael Herbsts. Es geht um eine neue Erweckungsbewegung. Oikodomie solle Menschen zu einem persönlichen Glaubenszeugnis führen.43 Die Gegebenheiten der Volkskirche werden nur soweit sie in seinem Sinne erbaulich sind gewürdigt.44

      Der Kybernetik der EKD-Mitgliedschaftsstudien gegenüber, welche „die treuen Distanzierten“ würdigen kann,45 führt er die Definition der Kirche als »Gemeinde von Brüdern« an und stellt angesichts der differenzierten und distanzierten Mitgliedschaftsformen fest: „Kirchlichkeit, die von der Ausnahmesituation der Wendepunkte im gesellschaftlichen und familiären Leben lebt, hat keine großen Überlebenschancen. Ihr fehlt der dauerhafte, regelmäßige Sozialbezug, die Einübung und Vertiefung. Der Trend zu einer solchen Kirchlichkeit wird ein Trend zu weiterer Distanzierung sein, bis hin zur Lösung von der Kirche. Man muß es deutlich sagen: Die Überlebenschancen solcher Kirchlichkeit sind gering, weil sie eine defiziente Form sozialer Bindung darstellt“ (131). Aber genau diese Begründung bedarf der Prüfung.

      Zunächst gilt es aber den Wachstumsgedanken zu ergründen. Herbst zeichnet ausführlich die neutestamentlichen Referenzstellen zum Gemeindebau nach (vgl. 74ff.). Er zeigt, dass „Gemeindeaufbau im Neuen Testament stets (bedeutet), daß Menschen für Christus gewonnen werden, d.h. als lebendige Steine in den Bau der Gemeinde eingefügt werden (Eph 2, 19f.; 1 Petr. 2, 4–8). Darum kann

eben zum Synonym für ευαγγελιζεσθαι werden (Röm 15,20)“ (100). Das zentrale Bild aber ist, insbesondere bei Paulus, der architektonische Bau, nicht das biologische Wachstum. Vom organischen Wachstum ist sehr wohl die Rede, etwa im Bild des wachsenden Leibes (Eph 4, 16). Aber darum geht es: um Wachstum als Zeichen von Lebendigkeit der Gemeinde: „Ihr seid Gottes Ackerfeld und Gottes Bau“, heißt es im 1. Korintherbrief (3,9). Die Bilder gehen ineinander über.

      Herbst arbeitet durchaus überzeugend heraus, dass Paulus mal diesen mal jenen Aspekt mit je unterschiedlichen Bildern betone. Es ist also nicht falsch, wenn Herbst seine Exegese zusammenfassend feststellt, dass „Gemeindeaufbau im Neuen Testament stets intensives und extensives Wachstum des begonnenen Baus (ist)“ (100). Dennoch ist das Wachstum im Blick auf die Organisation der Gemeinde mehr (biblisches) Interpretament als selbst eigenständiges (biblisches) Bild. Eine Einsicht, die angesichts der vermeintlich einfach biblischen Selbstverständlichkeit des Wachstumsappells schon von Interesse ist. Plausibilität bekommt Wachstum als Leitvorstellung der Organisation zur Bewältigung der Krise heute von woanders her.46

      Herbst überträgt das Bild des Glaubenswachstums nach dem Gleichnis vom Sämann auf das des Gemeindebaus. In der Analogie zum Aufkeimen und Wachsen des Glaubens geht es in seinem Leitbild der immer größer werdenden Zahl von Glaubenszeugen in gemeindlicher Gemeinschaft doch weniger um Kirchenleitung – bzw. im Bild gesprochen Bauleitung in der Gemeinde – sondern um Gemeindepflanzungen und deren Wachstum. Kirche gilt ihm dazu als Werkzeug Gottes, der Welt das Evangelium vom angebrochenen Reich zuzurufen (vgl. 175). Es geht um Evangelisation als Sendung an alle Welt im Dienst des missionarischen Gottes, in der Nachfolge Jesu Christi als dem Missionar schlechthin (vgl. 176f.). Herbst nimmt in der Formulierung Veränderungen auf, die das Missionsverständnis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der ökumenischen Bewegung erfahren hat (Missio Dei). Was Herbst aber vor allem von der Missionstheologie des 19. Jahrhunderts unterscheidet, ist der Ansatzpunkt bei der Gemeinde. Im Unterschied zum Wirken eines einzelnen Missionars ist „die Gemeinde-in-Mission […] nicht darauf aus, neue Mitglieder zu rekrutieren: auch weiß sie, daß ohnedies alle Menschen bereits Glieder der neuen Menschheit Gottes sind“, stellt Herbst fest. Um dann doch direkt anzufügen, dass die „Gemeinde-in-Mission“, die missionale Gemeinde, „dennoch erhoffen und erbitten (darf), daß es mitten in ihrem selbstvergessenen Dienst hier oder dort zu Fragen nach dem Glauben an Christus kommt, sogar zu Entscheidungen, diesen Glauben nun auch zu wagen. Es kann – wo immer Gott das für nötig hält – zum Glauben an das Evangelium und zur Gemeinschaft im Namen Jesu kommen“ (183). Wer wollte dem widersprechen? Fraglich wird hier aber doch die „Selbstvergessenheit“ des missionarischen Dienstes, wenn er darauf aus ist, „Gemeinden zu bauen, in denen Fernstehende die unio cum Christo in der communio sanctorum erfahren können“ (378). Denn hier fallen – angesichts der Abwertung des Christseins der kirchlich Distanzierten – das intensive und extensive Wachstum letztlich in eins. Es genügt dem Missionarischen Gemeindeaufbau eben nicht, dass „alle Menschen bereits Glieder der neuen Menschheit Gottes sind“. Sogar Taufe und Kirchenzugehörigkeit ist nicht genug. Eigentlich sollen alle zur „Gemeinde von Brüdern“ gehören.

      Mission ist für Herbst letztlich eben doch eine Sache der wahren Kirche zu ihrer Expansion. Es ist schon eigenartig, dass der „Erlanger“47 die reformatorische Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche so wenig beachtet und Glaubens- und Gemeindewachstum als eine Frage der richtigen Praxis begreift. Als Instrument seines Bemühens, die wahre Kirche wirklich werden zu lassen, dient seinem Ansatz das sogenannte Spirituelle Gemeindemanagement.48 Geistliche Zurüstung wird hier mit Fortbildung in Methoden des betriebswirtschaftlichen Managements verbunden, geleitet von der Auffassung von Kirche als Unternehmen auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten.


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