Mein geniales Leben. Jenny Jägerfeld
danke. Einstein, bleib stehen!«
Einstein durfte nicht losrennen, bevor ich auf den Asphalt hinausgekommen war. Sonst würde er mich nur wie einen Sack Nüsse hinter sich herschleifen.
Ich steckte ihm ab und zu ein Stückchen Wurst zu, während ich über den gepflasterten Weg stolperte, und so blieb er immerhin bei Fuß. Einsteins große braune Augen waren die ganze Zeit auf mich gerichtet, oder vielmehr auf meine Wurstverteilerhand. Krille kam mit dem Hockeyschläger hinterher.
»Also, pass auf! Als die schöne Opernsängerin Elise Schuhmacher Bornmouth zur Arbeit unterwegs ist, hat sie einen entsetzlichen Verkehrsunfall!«
Jetzt sprach Krille wieder mit diesem besonderen dramatischen Tonfall.
»Wie ist es denn mit diesem Fernsehfritzen weitergegangen? Wie hieß er gleich wieder? Basil?« fragte ich.
»Du meinst Basil Hollinghurst? Na ja, diese Idee habe ich ehrlich gesagt aufgegeben. Sie hatte gewisse Mängel. Die hier ist viel besser. Pass auf! Als Elise Schuhmacher Bornmouth gerade die Straße überqueren will, wird sie von einem Bus angefahren und fliegt fast zehn Meter durch die Luft, bevor sie auf einer Mauer landet. Bewusstlos wird sie ins Krankenhaus gebracht. Dort liegt sie im Koma, und die Ärzte können sie nicht aufwecken.«
»Oje«, sage ich. »Das klingt ja schlimm.«
»Kann man wohl sagen«, kam es von Krille. »Ihr ganzer Kopf ist bandagiert!«
Krille scheint ehrlich gesagt ziemlich auf bandagierte Köpfe fixiert zu sein.
»Hat man sie etwa auch in ein Kaninchen umoperiert?«, fragte ich.
»Nein, nein! Auf keinen Fall. Aber als die Verbände entfernt werden, wird klar, dass ihr früher so schönes Aussehen total zerstört ist. Überall nichts als Narben. Das Gesicht ist entstellt! Als sie nach ein paar Monaten aus dem Koma aufwacht, wird das ein Schock für sie. Sie sieht aus wie Frankensteins Monster und wird nie mehr als Opernsängerin auftreten können! Als sie schließlich das Krankenhaus verlassen darf, bittet sie ihre Mutter, alle Spiegel in ihrem Haus zu entfernen, weil sie es nicht erträgt, sich selbst so zu sehen. Bei ihrem ersten Ausflug ins Freie entdeckt sie plötzlich, dass sie auf der Stirn der Menschen Zahlen sehen kann!«
Ich legte die letzten Stolperschritte zurück, vorbei an Omas Briefkasten, und erreichte endlich den Asphalt.
»Sitz, Einstein, sitz!«
Einstein setzte sich brav hin und wurde mit einem Stück Wurst belohnt.
»Gibst du mir bitte den Hockeyschläger?«
Krille reichte ihn mir, und kaum hatte Einstein die Wurst erblickt, begann er hinter ihr herzuhüpfen.
»Nein, nein! Sitz! Sitz!«
Ich steckte ihm ein kleines Stück Wurst aus meiner Jackentasche zu. Krille Marzipan baute sich vor mir auf, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen.
»Aber die Opernsängerin Elise Schumacher Bornmouth stellt bald fest, dass nur sie als Einzige diese Zahlen sehen kann.«
»Entschuldige, Krille, aber ich muss …«
Ich deutete mit dem Kopf auf Einstein, der kaum noch still sitzen konnte. Also holte ich den Hockeyschläger hinterm Rücken hervor und hielt ihn Einstein vor die Schnauze. Er flippte total aus! Sprang hoch und schnappte nach der Wurst, die an der Schnur baumelte. Ich musste sie, so hoch es nur ging, über seinem Kopf halten. Krille Marzipan schien das Chaos, das sich vor seinen Augen abspielte, nicht zu bemerken.
»Als Elise Schumacher Bornmouth auf der Stirn ihres greisen Großvaters eine gewisse Zahl sieht und der Großvater am Tag darauf stirbt, begreift sie, dass diese Zahlen in Wirklichkeit ein Datum bedeuten. Verstehst du, Sigge? Sie kann das Datum des jeweiligen Todestages an der Stirn der Menschen ablesen!«
Krille Marzipan klopfte sich fest an die Stirn.
Einstein hörte inzwischen nicht mehr auf mich, sondern hüpfte nur noch hinter der Wurst her. Ich fuhr ruckartig Stück für Stück vorwärts und musste dabei breitbeinig stehen, um nicht umzufallen.
Plötzlich hüpfte Einstein höher, als er jemals gesprungen war, erwischte die Wurst und verschlang sie, ohne zu kauen. Nachdem er sie verschluckt hatte, sah er erwartungsvoll zu mir hoch.
»Hör mal, Einstein. Das hatte ich mir ganz anders vorgestellt!«, sagte ich.
Krille Marzipan redete weiter, als ob nichts passiert wäre.
»Die Opernsängerin Elise Schumacher Bornmouth erschrickt! Wie soll sie mit diesem Wissen umgehen?«
Er hob die Arme zum Himmel.
»Äh, weiß nicht so recht«, sagte ich. »Du, Krille. Könntest du mir vielleicht ein wenig helfen?«
Krille sah verwirrt aus.
»Äh, ja klar. Absolut.«
Dann befahl ich Einstein streng, hinzusitzen, holte eine neue Wurst aus dem Wurstpaket und band sie an die Schnur, die am Hockeyschläger hing. Einstein starrte die Wurst hingebungsvoll an. Ich starrte möglichst grimmig zurück, damit er sich keine Dummheiten erlaubte.
»Krille, kannst du mit dem Hockeyschläger und der Wurst vor Einstein herrennen? Ich glaube, das ist die einzige Möglichkeit. Aber du musst schnell rennen, und die Wurst musst du weit genug vor ihm herhalten, damit er sie nicht auffrisst.«
»Kein Problem.«
Ich reichte Krille Marzipan den Hockeyschläger.
»Lauf los, wenn ich es sage!«, sagte ich und presste die Hand auf Einsteins Hintern, um deutlich zu machen, dass er sitzen bleiben und erst davonstürzen sollte, wenn ich es erlaubte.
Krille Marzipan stellte sich ein paar Meter vor mir mit dem Hockeyschläger hin. Die Wurst baumelte an der Schnur. Einsteins Nase zuckte vor Erregung. Er konnte sich kaum beherrschen. Ich warf Krille einen Blick zu, machte einen ersten gleitenden Skaterschritt und schrie:
»Lauf, Krille, lauf!«
Krille streckte den Hockeyschläger aus und lief los. Einstein schoss sofort hinterher. Die Leine zuckte in meiner Hand und wurde zu einem langen Strich, aber weil ich darauf vorbereitet war, hielt ich mich auf den Beinen. Eine Millisekunde später begann ich zu rollen. Eigentlich hätte ich Krille Marzipan nicht unbedingt für einen Schnellläufer gehalten. Bei allem anderen, wie er sprach und sich bewegte, war er immer langsam. Aber Krille Marzipan rannte wie ein Panther! Schnell und geschmeidig. Zuerst kamen Krille Marzipan, der Hockeyschläger und die Wurst, dann kam Einstein an der Leine und dann ich auf den Inlinern. Anfangs lief es ein bisschen wacklig, doch als ich die Fahrt mit eigenen Skaterschritten unterstützte, ging es gleich viel besser. Plötzlich schoss ein sprudelnder, funkelnder Energieschub in mir hoch, ich fühlte mich ganz und gar anwesend, genau jetzt und genau hier! Ich sah Bäume und geparkte Autos vorbeifahren, wich Stecken und Steinen aus. Lachte laut auf! Ich fühlte mich euphorisch!
In der Schule hatten wir Achtsamkeitsübungen gemacht. Weil wir so gestresst wären und mehr »im Jetzt anwesend« sein müssten, wie unser Klassenlehrer Ronny sagte. Ich war nicht besonders daran interessiert gewesen, im Jetzt anwesend zu sein, weil das Jetzt ehrlich gesagt ziemlich mies war. Ich interessierte mich mehr für die Zukunft, sozusagen. Für alles, was ich dann machen wollte. Aber hier, auf meinen Inlinern, hinter Krille Marzipan und Einstein hersausend, fühlte ich mich plötzlich unglaublich im Jetzt anwesend! Und das fand ich super! Mit dieser Art der Anwesenheit kam ich bestens klar.
Einstein hüpfte plötzlich zur Wurst hoch, und die Leine machte einen heftigen Ruck. Ich schwankte, hielt mich aber senkrecht.
Krille riss den Hockeyschläger in letzter Sekunde hoch, und die Wurst schaukelte heftig vor und zurück. Einstein rannte im Zickzack und bellte aufgeregt.
»Also!«, keuchte Krille. »Elise Schumacher Bornmouth begreift, dass sie (keuch, keuch) eine Verantwortung hat, weil sie das Todesdatum kennt. Vielleicht kann sie (keuch, keuch) den Tod dieser Menschen verhindern? Sie geht täglich durch die Stadt. Wenn sie ein Datum sieht, das kurz bevorsteht