Mein geniales Leben. Jenny Jägerfeld
NOCH 6 TAGE MEIN WERTLOSES LEBEN
NOCH 5 TAGE EIN DREIFACHER WILDE
NOCH 3 TAGE HUNDERT MÖGLICHKEITEN, WIE ICH ALLES ANDERS HÄTTE MACHEN KÖNNEN
EIN FLATTERNDES VÖGELCHEN IN MEINER BRUST
NOCH 0 TAGE HALLO, SIGGE, HALLOHALLO!
EPILOG EIN HÖLLISCHES WIEGENLIED
NOCH 59 TAGE
EINE MAGISCHE HARPUNE
Einfach so. Da auf dem Tisch zwischen angestoßenen Tellern, alten DVDs und zerzausten Barbiepuppen – eine Harpune. Eine Harpune aus dunklem, lackiertem Holz. Eine, mit der man Wale und Fische erlegt. Sie sah aus wie ein Gewehr, mit einem langen Lauf, aus dem eine Pfeilspitze aus silberblankem Stahl herausragte. Am Pfeilende war ein dünner Strick befestigt, und unter der Harpune saß eine Art Rad, auf dem der restliche Strick aufgerollt war, damit man die getroffene Beute aus dem Wasser ziehen konnte.
Und dabei hatte ich gedacht, der Ausflug zum Flohmarkt wäre total sinnlos. Und jetzt entpuppte er sich als das genaue Gegenteil.
»Was kostet die?«, fragte ich.
Der Mann hinter dem Tisch sah auf. Er hatte Arbeitskleidung an und putzte gerade seine Brille mit einem schmutzigen Taschentuch. Als er die Brille aufsetzte, wurden seine Augen sehr klein, wie hellblaue Hemdknöpfe.
»Was?«, fragte er. »Die Harpune?«
»Ja.«
Er überlegte eine Weile.
»Fünfhundert.«
Fünfhundert. Das war viel Geld. Zwar hatte ich fünfhundert Kronen, aber nicht dabei. Ich starrte die Harpune an. Der Pfeil glänzte in der Sonne. Ich musste sie einfach haben, ganz klar. Das war nicht nur die schönste Harpune, die ich je gesehen hatte (okay, es war auch die einzige Harpune, die ich je gesehen hatte), sie passte außerdem perfekt zu meiner nächsten Erfindung.
»Darling! Hier treibst du dich also herum!«
Bevor ich antworten konnte, landete eine Hand schwer auf meiner Schulter. Armbänder klirrten. Oma.
»Hast du etwas gefunden?«
Ich deutete mit dem Kopf auf die Harpune.
»Flott! Ich selbst habe soeben dieses Meisterwerk erworben!«
Widerstrebend löste ich den Blick von der Harpune und drehte mich zu Oma um.
Auf dem Transportkarren neben ihr war ein Gemälde festgezurrt. Ein Riesengemälde, mindestens so groß wie unser Küchentisch. Es sollte wohl einen Fuchs in einer Winterlandschaft darstellen. Besonders professionell konnte der Künstler, der das gemalt hatte, aber nicht sein. Der Fuchs hatte irgendwie verrutschte Proportionen. Die eine Vorderpfote erinnerte an ein dickes Stuhlbein, der Schwanz hatte die Form eines Eichhörnchenschweifs, und obwohl der Fuchs im Profil gemalt war, sah man beide Augen. Der Fuchs stand in einer Schneewehe und trank Wasser aus einem verblüffend rosaroten See.
»Wow!«, sagte ich.
»Nicht wahr!«, sagte Oma begeistert.
»Das ist wirklich …«
Ich suchte nach dem richtigen Wort.
» … einmalig.«
»Das ist ein Bruno Liljefors!«, erklärte Oma.
Der Mann hinter dem Tisch schnaubte.
»Wenn das ein Bruno Liljefors ist, dann bin ich Diego Maradona.«
»Guter Mann. Ich denke, ich habe vielleicht ein klein wenig mehr Ahnung von Kunst als Sie. Das hier ist ein Bruno Liljefors.«
»Und ich bin Maradona«, sagte der Mann. »Möchten Sie ein Autogramm?«
Oma ignorierte ihn, musterte das Bild mit einem zufriedenen Nicken und sagte:
»Sigge, du musst nämlich wissen, Bruno Liljefors ist der berühmteste Tiermaler Schwedens.«
»Echt?«, sagte ich.
»Der Fuchs sieht ja aus, als hätte er eine Handgranate verschluckt und wäre dann explodiert«, bemerkte der Mann.
»Es ist ein sehr früher Liljefors«, erklärte Oma gelassen. »Als der Künstler das gemalt hat, war er erst sechzehn. Das hat der Verkäufer gesagt. Wahrscheinlich beherrschte er sein Handwerk damals noch nicht so richtig.«
Der Mann kam hinter dem Tisch hervor und hockte sich vor das Bild hin.
»Rune Liljefors steht da!«
»Sind Sie blind, oder was? Sehen Sie nicht das große B?«, sagte Oma.
»Nie im Leben ist das ein B, das ist ein Fleck! Eine tote Fliege, die an der Farbe festklebt, oder was weiß ich!«
»Das ist ein B!«
»Na, von mir aus, aber Tatsache bleibt trotzdem, dass dieser Mensch dann Brune Liljefors heißt!«
»Er wird sich eben verschrieben haben, Herrgott noch mal!«, sagte Oma gereizt.
»Bei seinem eigenen Namen?«
»Mein lieber Mister Know-it-all«, sagte Oma, »das kann jedem mal passieren. Ich selbst hab Charlotte schon mal mit drei T geschrieben!«
Lächelnd drehte sie sich zu mir um.
»Jedenfalls ist das Bild bestens dafür geeignet, das Loch in der Wand damit abzudecken! Im Flipperzimmer. In deinem Zimmer, meine ich!«
»Perfekt«, sagte ich.
Ich streckte die Hand aus, berührte die Harpune vorsichtig. Das Holz unter meinen Fingern war blankpoliert und seidenweich.
»Oma, kannst du mir fünfhundert Kronen leihen? Du kriegst sie gleich zurück, wenn wir nach Hause kommen.«
»Fünfhundert! Ganz schön überteuert! So ein Wucherer! Er kriegt höchstens dreihundert.«
»Ich stehe hier«, sagte der Mann. »Ich höre alles.«
Ich wusste nicht genau, was Wucherer bedeutet, aber mir war klar, dass es nichts Gutes war.
»Sagen Sie mal«, sagte Oma und sah dem Verkäufer direkt in die kleinen Hemdknopfaugen. »Ist das hier eine magische Harpune?«
»Äh … nein.«
»Bekommt man als Dreingabe ein Motorrad?«
Der Mann hob fragend die Augenbrauen.
»Hat die Harpune etwa irgendwann mal Jesus gehört? Nein? Na dann! Ich gebe Ihnen dreihundert«, sagte Oma und begann in ihrer goldglitzernden Handtasche zu kramen.
Sie zog eine Brieftasche heraus und knallte drei Hunderter auf den überladenen Tisch. Drei Hundertkronenscheine, die sofort von einem Windstoß aufgefangen wurden und rasch durch die Luft davonwirbelten.
»Oh dear!«, schrie Oma. Ich rannte hinter den Scheinen her, die natürlich in drei verschiedene Richtungen davonflatterten. Als es mir gelang hochzuhüpfen und einen der Hunderter in der Luft zu fangen, war ich von mir selbst recht beeindruckt. Ich glaube, ich bin noch nie so hoch gesprungen! Ich musste an den Wettkampf