Mein geniales Leben. Jenny Jägerfeld
dann musste Mama wieder nach Schweden zurück. Kaum hatte sie in Stockholm das Flugzeug verlassen, musste sie sich übergeben. Wie eine Fontäne kam alles hoch. Zuerst dachte sie, sie hätte sich den Magen verdorben, aber als die Kotzerei nach ein paar Tagen nicht aufhörte, sah sie ein, dass sie schwanger war. Mit mir!
Sie war zwar erst zwanzig, wusste aber gleich, dass sie mich behalten wollte, obwohl keine ihrer Freundinnen ein Kind hatte.
Außer wie seine Haare und Augen aussehen, weiß ich genau fünf Dinge über meinen Vater. 1. Er heißt Jonathan Taylor. 2. Er ist ein hoffnungsloser Typ (das hat Mama mir nicht so direkt gesagt, aber ich hab gehört, wie sie am Telefon über ihn geredet hat). 3. Er hat ein Piercing in der Zunge, das sieht von oben aus wie ein blaues Bonbon und von unten wie eine runde Metallkugel. 4. Er ist nicht sehr groß. 5. An einem Tag, als das Lokal geschlossen war, hat er ein märchenhaftes Gericht für Mama gekocht. Sie durfte auf der Terrasse sitzen, mit Blick aufs Meer, während die gelben, roten und blauen Lampions im Wind schaukelten. Er tischte das beste Hühnchen auf, das sie je gegessen hatte (das war, bevor sie Vegetarierin wurde), und als Nachtisch gab es einen Apfelkuchen, den er mit ihrem Namen, »Hannah«, aus lauter Apfelstückchen verziert hatte, dazu ringsum ganz viele Herzen. Also scheint er ja auch ziemlich verknallt in sie gewesen zu sein.
Mein Vater weiß, dass es mich gibt. Das hat Mama mir gesagt. Aber er hat nie den Wunsch geäußert, mich kennenzulernen. Klar, er wohnt ja auf der anderen Seite der Welt, da kann man sich natürlich nicht alle zwei Wochen sehen, aber man könnte vielleicht skypen, mal eine Mail schicken oder so. Aber dazu hat er sich nie aufgerafft. Mama sagt, ich soll mir nichts daraus machen. Sie habe Liebe genug für zwei Eltern und sogar mehr.
Meine Lehrerin hat einmal gesagt, das, was man nie gekannt hat, kann man nicht vermissen. Sie erzählte, sie sei ohne Mutter aufgewachsen. Die sei nämlich gestorben, als sie selbst noch ein kleines Baby war. Aber mir war sofort klar: Das stimmt nicht. Ich habe meinen Vater vermisst. Oder, vielleicht nicht direkt meinen Vater, weil ich ja nicht weiß, wie er ist (bis auf diese fünf Dinge). Aber einen Vater habe ich auf jeden Fall vermisst. Zwar war Svedrik da, aber das ist nicht dasselbe. Wir haben nicht die gleichen Augen. Wir sind uns in keiner einzigen Sache ähnlich.
Vielleicht irre ich mich total, aber manchmal denke ich, wenn es in meinem Leben einen Vater gegeben hätte, hätte ich nie solche Probleme mit Freunden und so gehabt. Vielleicht hätte ich mich dann nicht so komisch gefühlt? Nicht so verkehrt. Vielleicht hätte er mir beibringen können, wie man alles richtig macht? Vielleicht.
DAS PARADIES UND EIN AUSGESTOPFTER FISCHOTTER
Obwohl Mama behauptete, der Umzug zu Oma sei eine Notlösung, war er für mich ein Umzug ins reinste Paradies! Auch für die Tiere war es hier viel besser. Einstein durfte öfter frei herumrennen, Tarzan und Frasse bekamen einen viel größeren Käfig, und die Schildkröte Carolina konnte in ihrem Gehege draußen im Freien sein. Oma hatte es rechtzeitig bis zu unserem Einzug gebaut. Es war zwei mal zwei Meter groß und hatte keinen Boden, so konnte Carolina mit ihren Schildkrötenfüßchen direkt auf dem Gras laufen.
Bestimmt fanden Majken und Bobo den Umzug auch gut, obwohl sie in Stockholm garantiert nicht so sehr gelitten hatten wie ich. Außer dem guten Essen, das es bei Oma gab, fanden wir es alle super, dass jeder von uns hier sein eigenes Zimmer hatte. In Stockholm hatte Bobo bei Mama und Svedrik geschlafen, und Majken bei mir im Zimmer. Das Zimmer hatten wir zwar mit einem Bücherregal abgeteilt, aber das war nicht so ideal. Majken ist acht, also vier Jahre jünger als ich. Außerdem brachte sie immer ihre Freundinnen mit nach Hause, und wenn die im Zimmer waren, konnte man fast nicht denken. Majken redet schrecklich laut. Ihre Freundinnen in Stockholm redeten genauso laut, aber wahrscheinlich nur, weil sie Majken übertönen wollten. Wenn die Freundinnen allein waren, redeten sie ganz normal.
Als Majken klein war, ging Mama mit ihr zum Arzt, weil die Erzieherinnen in der Vorschule meinten, Majken wäre taub. Sie sprach nämlich nicht nur wahnsinnig laut, sondern schien auch kaum zu hören, was andere Leute sagten. Aber nach dem Test erklärte der Arzt, Majken hätte ein Gehör wie ein Walfisch. Walfische können offenbar Geräusche von der anderen Seite des Atlantiks hören. Der Arzt hat vielleicht ein bisschen übertrieben, aber Majken hört tatsächlich das Rascheln einer Bonbontüte über mehrere Zimmer hinweg. Das ist sozusagen ihre Superkraft. Majken selbst hat erklärt: »WAHRSCHEINLICH HÖRE ICH VOR ALLEM DANN NICHT SO GUT, WENN MIR JEMAND WAS VERBIETEN WILL.«
Wenn Majkens Stimme durch Mark und Bein geht, wie Oma immer sagt, ist es mit Bobo gerade umgekehrt. Sie spricht fast überhaupt nicht. Sie kann nur dreißig oder vierzig Wörter sagen. Ihre häufigsten sind: Gujke, Hallohallo, neinnein, Mama, Sigge, Maje (bedeutet Majken) und fetti (bedeutet fertig, das schreit sie, wenn sie auf dem Klo gewesen ist). Und dann kann sie noch viele Tiernamen, Tiere sind ihr größtes Interesse. Außer Gurke, natürlich. Aber obwohl sie nicht viel reden kann, scheint sie mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Mama ist weniger zufrieden. Sie macht sich Sorgen, weil Bobo so »eine Spätentwicklerin« sei.
In Stockholm ging Bobo zu einer Logopädin. Das gefiel ihr, weil es da große Buchstaben aus Samt gab, die waren wie Schmusetiere, mit Augen und Mündern und allem Drum und Dran. Und außerdem machte die Logopädin immer so verrückte Töne, in der Hoffnung, dass Bobo die nachahmen würde. Was sie aber nicht tat.
Aber immerhin scheint Bobo zu verstehen, was man zu ihr sagt. Wenn es ums Sprechen geht, bin ich der einzig Normale. Tut gut, wenigstens auf einem Gebiet normal zu sein.
Wie dem auch sei. Zurück zum Thema. Nach Großvaters Tod vor vier Jahren erbte Oma ein kleines Hotel, The Royal Grand Golden Hotel Skärblacka, wie es inzwischen heißt. Die meisten Gäste waren Touristen aus Deutschland, aber seit wir hier eingezogen sind, ist damit Schluss.
Der einzige Hotelgast, der geblieben ist, heißt Krille Marzipan. Aber der macht sein Bett selbst und sorgt für sein eigenes Frühstück und so. Krille Marzipan ist ein sehr langer, sehr dünner und sehr eleganter Herr, der es liebt, über seine Filmideen zu reden. Jedes Mal, wenn man ihm begegnet, hat er eine neue Idee. Alle sind ähnlich … wie soll ich sagen … speziell. Die ersten siebenundvierzig Ideen, die er mir erzählte, fand ich einigermaßen spannend. Inzwischen fühle ich mich ehrlich gesagt etwas erschöpft. Zu dumm, dass man immer so höflich ist.
Mama ist weniger höflich. Sie unterbricht ihn sofort und sagt: »Krister, nein!« Ich selbst versuche lieber, eine Ausrede zu finden. Zum Beispiel: »Ich muss … äh, Wäsche zusammenlegen.« Aber das führt dann nur dazu, dass ich dastehe und Wäsche zusammenlege, während Krille Marzipan danebensteht und labert. Ich muss mir unbedingt eine andere Lösung ausdenken.
Weiter im Text. Oma hat alle Zimmer im Stil der 1950er-Jahre eingerichtet, wie damals, als sie jung war. In Bobos Zimmer steht eine Jukebox. Das ist eine Maschine, die Schallplatten abspielt, wenn man eine Münze reinsteckt. Ein bisschen wie Spotify, nur mit echten Vinylplatten. Und man kann nur Hits aus den 1950er- und 1960er-Jahren abspielen.
In Majkens Zimmer steht ein alter Coca-Cola-Automat, der jetzt allerdings leer ist. Aber letzten Samstag hat Majken fünf echte Colaflaschen besorgt und ihn damit aufgefüllt. Bobo und ich durften uns eine Flasche teilen, die vier übrigen trank Majken aus. Hinterher lief sie den ganzen Nachmittag rülpsend durch die Gegend. Ich brauche wohl nicht extra zu erwähnen, dass Majken sehr laut rülpsen kann.
In meinem Zimmer gibt es das Beste von allem: einen Flipperautomaten! Er heißt Frau Fortuna, und ich liebe ihn! Jedes Spiel kostet eine Krone, aber das sind alte Kronen von früher, und Oma hat eine Dose voller alter Kronenmünzen neben das Spiel gestellt. Wenn die Münzen alle sind, öffnet man unten am Flipper einfach eine kleine Klappe, leert alle Kronen aus und kippt sie wieder in die Dose zurück. Na, ist das was?! Man fühlt sich echt, als wäre man im Paradies gelandet!
Mama findet wahrscheinlich nicht, dass sie im Paradies gelandet ist. Abgesehen vom Zigarettenrauch, der Oma immer in eine hellgraue Wolke hüllt, stört es Mama, dass Oma zu viel Krempel hat. Z. B.: ein elektrischer Rollstuhl (den Opa benutzte, bevor er starb), eine große Buddha-Statue aus grünem Marmor, eine Menge Uhren (in jedem Zimmer mindestens eine), die bei jeder vollen Stunde eine kleine Melodie spielen, und dann die vielen meterhohen