Der radioaktive Mann. Søren Jakobsen

Der radioaktive Mann - Søren Jakobsen


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Luft hängen. Lise war noch immer am Apparat.

      »Ja, ja, dann kommen wir für ein, zwei Stunden. Nicht länger – wegen der Kinder.« Birte legte auf.

      »Wir gehen noch auf einen Sprung rüber zu Lise und Niels, nicht wahr, Poul?«

      »Ja, ich komme schon«, antwortete Poul, aber in Gedanken war er weder im Strauss- noch im Schubertvej. Er war am Asiatisk Plads und versuchte, sich das Bild in Erinnerung zu rufen, als der Lastwagen am Warenaufzug des neuen Ministeriums hielt. Svend Åge und Peter sollten anfangen, die verschlossenen Kisten abzuladen, die fertig gepackt in der Stormgade gestanden hatten.

      »Da waren ein paar leere Kisten dazwischen«, erzählte Svend Åge hinterher. »So viel Aufwand wäre doch für die Fernsehtypen wirklich nicht nötig gewesen.«

      Poul hatte wie ein großes Fragezeichen ausgesehen. »Was meinst du damit?«

      »Ich meine klipp und klar, daß es Blödsinn ist, wenn wir mit leeren Kisten herumrennen, nur um ein flottes Tempo vorzulegen und ein paar Typen zu imponieren, die sich bei ihrer täglichen Arbeit sicher nicht überanstrengen.«

      »Ich weiß nichts von leeren Kisten«, wehrte Poul ab.

      Doch hinterher hatte er sich schon seine Gedanken gemacht: es war etwas merkwürdig, daß die Leute vom Außenministerium volle und leere Kisten durcheinander gestellt hatten.

      Bei Lise und Niels mußte er die Erlebnisse des Nachmittags in allen Einzelheiten erzählen, und Poul genoß es ein bißchen, im Mittelpunkt zu stehen. Das geschah nun wirklich nicht so oft. Niels zeigte sich allerdings weniger beeindruckt.

      »Du hast ja für den Beitritt in die EG gestimmt. Deshalb ist es auch ganz richtig, daß du einer von denen bist, die sich einen Buckel von all dem politischen Papierscheiß holen müssen«, spottete er.

      »Alles ging so fix, daß wir sogar mit ein paar leeren Kisten gefahren sind.« Obwohl Poul seine Offenheit verfluchte, es war bereits zu spät. Niels hatte sofort einen Spruch auf Lager.

      »Na, das war doch ’n Ding, wenn dieser ostdeutsche Spion das Ministerium um geheime Dokumente erleichtert hätte.« Niels schlug sich vor Lachen auf die Schenkel, fügte aber dann versöhnlich hinzu: »Lise, haben wir nicht noch ein paar Bier? Man wird ganz durstig, wenn man mit solch einem Fernsehhelden zusammensitzt.«

      2

      ›Die Glücklichen mit Aussicht über die Stadt können auf Kopenhagens Skyline blicken, aber die Unglücklichen, die zum Hof hin oder in den geschlossenen Trakten sitzen, müssen das Gefühl eines Gefängnisaufenthaltes bekommen.

      Alles ist gedrängt und gepreßt.‹

      Jens Krog Petersen, der Direktor des Außenministeriums, verbrachte seine Arbeitszeit normalerweise nicht damit, Architekturkritiken zu lesen, aber die Kritik der ›Politiken‹ an dem neuen Außenministerium am Asiatisk Plads war in seine Morgenlektüre geraten. ›Feine Details‹, das war alles, was Henrik Sten Møller von der ›Politiken‹ an Positivem bei dem Rundgang gesehen hatte, zu dem er zusammen mit anderen Journalisten eingeladen gewesen war. Ansonsten kein lobendes Wort. Auch in der ›Berlinske Tidende‹ standen nur kritische Bemerkungen, die durch das Zitat eines unbekannten Mitarbeiters im Ministerium – ›Hier werden wir durchgezählt, danach gehen wir zurück in die Zellen. Es ist grauenvoll.‹ – noch unterstrichen wurden.

      Jens Krog Petersen hatte keinerlei Zweifel, daß gerade die Mitarbeiter, die von Christiansborg hierher gezogen waren, das Bürogebäude am Asiatisk Plads als einen unangemessenen Rückschritt empfanden.

      Die Adresse Christiansborg wurde intern als eine der besten angesehen, denn man saß zusammen mit dem Staatsminister und dem Außenminister unter einem Dach. Aber der Direktor und einige ältere Mitarbeiter hatten allmählich doch das Gefühl, daß die Unannehmlichkeiten das Prestige überwogen.

      Die politischen Krisen, die mit der gleichen unabänderlichen Sicherheit und Häufigkeit zu kommen schienen wie Regenschauer in den Schulferien, brachten es mit sich, daß die ehrwürdigen Gänge des Ministeriums von politischen Unterhändlern und dem ihnen nachfolgenden Schwanz von Journalisten und Photographen besetzt gehalten wurden. Letztere hatten weder diplomatische, geschweige denn gewöhnliche bürgerliche Manieren vorzuweisen – meinte der Direktor. Es war nicht ungewöhnlich, daß die Journalisten auf dem Fußboden herumlagen, wenn sich Konferenzen des Staatsministers bis in die Nacht hinzogen. Damit das Ministerium nicht allzusehr an die ›Strøget‹ an einem warmen Sommertag erinnern sollte, mußten die Beamten gelegentlich das Botschafterzimmer zur Verfügung stellen oder in ihrer eigenen Wachstube Bier ausschenken.

      Nein, dann doch lieber die kleine Distanz, die die Lage am Asiatisk Plads jetzt mit sich brachte, dachte der Direktor. Sie würde größere Arbeitsruhe bringen, und in einigen Monaten wird kaum noch jemand Witze über Gefängnisgänge und Zellen reißen. Was wäre denn die Alternative gewesen? Ein teureres Projekt – hier direkt an der Hafengrenze durchaus verlokkend – hätte ganz einfach wie eine Herausforderung gewirkt, wenn der Staat, die Ämter und die Kommunen an allen Ecken und Enden sparen sollten.

      Die Fernseh- und Zeitungsreportagen über das neue Ministerium liefen der leidigen Affäre um den ostdeutschen Spion, der die Liebe einer weiblichen Aushilfe, einer Studentin, ausgenutzt hatte, völlig den Rang ab. Über die Geschichte war sehr breit in der Presse berichtet worden, aber jetzt war das endgültige Urteil des Obersten Gerichtshofes gefallen, und es gab keine neuen Aspekte mehr. Die Architekturkritiker hatten die größten Überschriften, nicht die Gerichtsreporter.

      Der Direktor wurde durch das Brummen des grauen Tastentelefons in seinen Gedanken unterbrochen. Der Anruf kam vom Staatssekretär Viggo Nielsen im Justizministerium.

      »Eigentlich habe ich darauf gewartet, daß du anrufst und die Verbrechensvorsorge zu einem Studienbesuch einlädst, denn obwohl Brydensholt Richter am Landgericht geworden ist, haben wir doch nicht aufgehört, uns für die Verhältnisse in modernen Gefängnissen zu interessieren.«

      Der Direktor reagierte gemessen: »Hast du nichts anderes zu tun, als einen sehr beschäftigten Kollegen mit perfiden Bemerkungen zu belästigen?«

      »O ja, aber du bist doch wohl durch die Umzieherei nicht so beschäftigt, daß du vergessen hast, deinen Sinn für Humor mitzunehmen? Aber wenn du so streng geschäftlich bist, will ich gleich zur Sache kommen. Kurz und gut, ich meine, wir sollten ein kleines, informelles Gespräch über die Folgewirkungen des Falles Jörg Meyer führen. Bei der Gelegenheit kannst du mich ein bißchen in euren neuen, feinen Büros herumführen.«

      »Wenn du mich zum Wirt bestimmst, möchte ich gern den Sicherheitschef dabei haben, jedenfalls bei dem Teil unseres Treffens, wo es um Jörg Meyer geht.«

      »Laut Protokoll bestimmt der Wirt die Tischordnung, das ist richtig«, antwortete Viggo Nielsen, »aber das Informelle geht ein bißchen flöten, wenn ein Dritter dabei ist, es kann sich um einen noch so vertrauenswürdigen Mitarbeiter handeln. Kann es nicht unter vier Augen bleiben?«

      »Wenn du so darum bittest. Sagen wir Mittwoch um vierzehn Uhr.«

      Was hat er vor? dachte der Direktor und legte den Hörer auf. Der Sicherheitschef des Ministeriums hatte allen Verhandlungen beigewohnt, zuerst im Østre Landsret und dann vor dem Obersten Gerichtshof. Das Ministerium hatte mit dem Geheimdienst zusammengearbeitet, und Viggo Nielsen hatte keinerlei Andeutungen darüber gemacht, daß der Sicherheitschef lästig gewesen wäre.

      Als eine übliche Beendigung der ganzen Angelegenheit hatte der Sicherheitschef vorgeschlagen, die Sicherheitsvorkehrungen des Außenministeriums zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Auf diese Weise wäre man vorbereitet, wenn der Fall später noch einmal von der Regierung aufgegriffen würde, das Außenministerium könnte dann eine weniger willkommene Initiative erfolgreich abwehren.

      Der Direktor hatte zugestimmt. Der Vorschlag klang vernünftig. Wenn es wirklich etwas zu korrigieren gab, war es das beste, wenn das Ministerium von sich aus die Initiative dazu ergriff. Viggo Nielsen kam wahrscheinlich nur, weil er als Staatssekretär dazu neigte, seine Effektivität unter Beweis zu stellen.


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