Der radioaktive Mann. Søren Jakobsen
das Ministerium beraten hat; und diese Arbeit haben sie so perfekt erledigt, daß es sehr schwer für ein Mitglied deiner Arbeitsgruppe werden wird, sich im Ministerium zu zeigen, ohne daß die Untersuchung dadurch kompromittiert wird.«
»Zum Teufel.« Bojskov sah grimmig aus.
»Ich weiß auch, daß die Arbeit dadurch nicht gerade einfacher wird, aber so sind die Arbeitsbedingungen, und du sollst auch hören, warum. Nachdem die westdeutschen Terroristen die Botschaft in Stockholm gestürmt und den Militärattaché ermordet hatten, sah die Diplomatie ein, daß die Sicherheitsanlagen der Botschaften und Ministerien ausgebaut werden mußten. Ja, genaugenommen gab es gar keine Sicherheitsvorkehrungen. Man konnte im wahrsten Sinne des Wortes einfach von der Straße aus hineingehen und fast jeden Botschafter kidnappen. Darum bekam Christiansborg kugelsichere Scheiben, aber die Sicherheitssysteme waren noch immer ziemlich primitiv. In dem neuen Gebäude ist alles diskreter und raffinierter, und das bringt es mit sich, daß sich zum Beispiel dein Gesicht in dem Moment, wo du, Bojskov, zum Haupteingang am Asiatisk Plads Nr. 2 hereintrittst, auf dem Bildschirm des Wachtmeisters zeigt. Wenn du Lust hast, es auszuprobieren, die Kamera sitzt rechts vom Eingang unterm Dach, aber das würde zur Folge haben, daß wir dich aus der Arbeitsgruppe nehmen müßten.
Aus Sicherheitsgründen läuft nämlich nicht nur eine interne Fernsehkamera. Unsere Sicherheitsgruppe empfahl dem Ministerium, alle Aufnahmen auf Video mitzuschneiden, so daß man bei ungesetzlichem Eintreten – im schlimmsten Fall einer Terroraktion – immer gute Bilder von den Tätern hat.
Ob die Videoanlage wirklich läuft, weiß ich nicht, das gebe ich zu, aber du mußt damit rechnen.«
»Sehr witzig. Ich soll einen Krieg gegen die Sicherheitssysteme führen, die der PET eigenhändig mit aufgebaut hat.«
»So würde ich es nun auch nicht sagen«, antwortete John Møller. »Ich finde, es ist doch für dich von Vorteil zu wissen, worauf du aufpassen mußt.«
»Unter diesen Bedingungen wird es schon ein paar Tage dauern, bis ich mit einer vernünftigen Skizze kommen kann.«
»Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Hauptsache, der Plan wird gut. Dann macht es auch nichts, wenn du dich zwischendurch mit Totospielen entspannst. Übrigens, schließen nicht gleich die Läden ihre Kassen für diese Spielrunde?«
»Das läuft aber hart auf den Vorwurf des Dienstversäumnisses hinaus. Ich werde mir überlegen, ob ich nicht mit meinem Vertrauensmann darüber spreche.« Bojskov sah todernst aus, obwohl er einen Witz machen wollte.
Aber John Møller hatte ganz offensichtlich seine tägliche Dosis an Humor verbraucht. Er ignorierte, daß es ein Witz sein sollte. »Und wenn Sie mit Ihren Giftigkeiten und nur schlecht verheimlichten Querelen nicht aufhören, werde ich dafür sorgen, daß wir sehr bald eine neue Kartei aufbauen müssen. Ihr Name wird dann ganz oben auf der Anwärterliste stehen.«
»Unentschieden«, lächelte Bojskov und erhob sich.
»Denk dran, Systemspiel bringt am meisten.« Jetzt lachte auch John Møller.
4
Wenn alle ihre Position im System kennen, gibt es für Vorgesetzte keinen Grund, sich aufzuregen oder zu kommandieren. Das geht bloß auf die Stimmbänder und vermittelt Besuchern einen wenig glücklichen Eindruck. Im PET-Hauptquartier über dem dritten Revier kennen alle ihren Platz, und daher ist es eine Ausnahme, wenn direkte Befehle gegeben werden. Die Chefs bitten oder sagen – je nach Jahrgang und Temperament: »Wollen Sie oder du nicht mal . . .« Eine zivilisierte Hackordnung, eine Hackordnung, bei der es keine offenen Wunden gibt.
Wer das Recht hat, um dieses oder jenes zu bitten, und auch erwarten darf, daß es ausgeführt wird, das geht nicht aus Bekleidung und Tonfall hervor, sondern aus der Anordnung der Schreibtische der Beteiligten. Die Anzahl der Fenster eines Büros, kleine Unterschiede in der Einrichtung und nicht zuletzt die Lage eines Büros markieren die Rangunterschiede im hierarchischen System.
Was die Bekleidung angeht, ist John Møller die Ausnahme – eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. John Møller läuft immer wie ein Boss verkleidet herum, aber erst, wenn man sein nach Süden gelegenes Büro mit den vier Fenstern gesehen hat, weiß man um seinen Rang. Polizeimeister Oluf Trapp Madsen hat nämlich fünf Fenster, und nur er verfügt über ein eigenes Konferenzzimmer.
Die Südseite ist die feine Seite. Von hier aus kann man die kleine grüne Anlage übersehen, die zwischen dem Hulgårdsvej und der Borups Allé liegt.
Auf der anderen Seite des PET-Gebäudes bekommt man derartige grüne Illusionen nicht. Will man die Aussicht genießen, kann man zwischen einem asphaltierten Parkplatz und der grauen, einem Fort nicht unähnlichen Wachstation der Staatlichen Elektrizitätswerke wählen. Seit die Privatwagen des PET-Personals in immer längeren Intervallen – und jedesmal gegen kleinere Modelle – ausgewechselt werden, ist der Parkplatz uninteressant. Die graue Tristesse der Wachstation ist hier auf der Schattenseite also das aufregendste Moment.
Bojskovs Gespräch mit John Møller hatte der Apathie des Kripoassistenten ein Ende gesetzt. Er war wieder zur Biene geworden, die von allen Seiten her Frühlingsdüfte wahrnimmt.
Der kleine Schreibtisch in dem Zweifenster-Zimmer war mit Papieren übersät. Obendrauf lag ein ungewöhnlich dickes Buch, in festes hellgrünes Leinen gebunden, das Reichswappen auf der Titelseite eingeprägt. Bojskov war dabei, den Hofund Staatskalender zu studieren, eines der offiziellsten Werke, das überhaupt in Dänemark erschien.
In diesem Buch kann man zum Beispiel nachlesen, wann der PET-Chef geboren wurde, wann seine Ernennung stattfand, und wann er zum Ritter des Danebrog-Ordens geschlagen wurde. Es gibt Tabellen über die Familienverhältnisse des Königshauses, sämtliche Namen der drei obersten Rangklassen im Königreich sind verzeichnet, der Text des Grundgesetzes, die Adressen der Ministerien, Übersichten über die Geschäftsbereiche der einzelnen Abteilungen, Verzeichnisse über die verschiedenen akademischen Mitarbeiter der Abteilungen und eine Vielzahl weiterer nützlicher Informationen findet man hier.
Anders Bojskov war dabei, die ehemaligen Adressen und die Personenverzeichnisse des Außenministeriums durchzugehen, aber es fiel ihm schwer, sich auf die alten Adressen in Kopenhagen zu konzentrieren. Für einen Kriminalassistenten des zweiten Grades hatte das Buch etwas von einem Märchenbuch, wenn er den Abschnitt über das Außenministerium aufschlug. Im Grunde war auch nichts dagegen zu sagen, daß er an eine kleine dienstliche Rundreise dachte, als er die Adressen und Telefonnummern sämtlicher Botschaften Dänemarks überflog und das weltumspannende Netz von London bis Tokio verfolgte. Aber Bojskov vergaß seine Träumereien. Das läuft doch nur darauf hinaus, daß sie sagen, ich soll den Stadtbus zur Stormgade nehmen, dachte er. Daß die Chefs in Europa herumreisen, ist eine andere Geschichte.
Bevor das Außenministerium zum Asiatisk Plads gezogen war, gab es sechs verschiedene Adressen. Der Minister, der Direktor und die besseren Abteilungen hatten selbstverständlich in Christiansborg residiert, aber Bojskov interessierten die drei Adressen in der Stormgade am meisten.
In der Stormgade 2 ging es um die drei Büros der Verwaltung. Besonders die Büros A I und A III waren für einen Geheimdienstmann heiße Adressen. Zu A I, dem Personalbüro, gehörten ›personelle Angelegenheiten, sämtliche Abteilungen betr., darunter Anstellungen, Einsatz und Ausbildung‹. Unter den Bereich A III fielen ›Kommunikation, Kurierdienst, Telekommunikation, Chiffrierdienst, Postversand und Sicherheitsdienst‹.
Das Büro A I mußte ganz einfach alle Grundinformationen haben, die Bojskov und seine Arbeitsgruppe brauchten. Es war allerdings undenkbar, daß sie sich einfach im Archiv niederließen, alle Akten durchgingen und hinterher um Fotokopien von dem für sie interessanten Material baten.
Nur vier Hausnummern weiter hatte Jörg Meyer seine Nase für den ostdeutschen Sicherheitsdienst ins Ministerium gesteckt. Die Abteilung für internationale Wirtschaftsbeziehungen war ebenfalls in drei Büros aufgeteilt, M I, M II und M III. Und im letzten hatte Meyers Freundin, Katrine Sommer, gearbeitet. Hierher gehörten: ›Internationale Energiezusammenarbeit, worunter die Angelegenheiten der EG und der internationalen Energieagentur (IAE) fielen. Ferner: Energiepolitik, worunter