Der radioaktive Mann. Søren Jakobsen
interessant zu wissen, ob auch Jörg Meyer und sein Führungsoffizier mit dem Staats- und Hofkalender dagesessen hatten, um rauszukriegen, wo man Katrine Sommer am erfolgreichsten einsetzen konnte. Der Gedanke setzte sich in Bojskov fest und verschaffte ihm einen unangenehmen Geschmack im Mund. Er griff nach dem halbleeren Kaffeebecher. Pfui, zum Teufel – der Kaffee war nur noch lauwarm und bitter.
Eine unbehagliche Assoziation, aber Bojskov konnte sich nicht von dem Gedanken freimachen. Eifrig blätterte er weiter in den Unterlagen, die ihm John Møller mit der Bemerkung gegeben hatte, daß sie zur prinzipiellen Orientierung gedacht seien, und nicht, um den Fall Meyer neu aufzurollen.
Nur begrenzte Einsicht zu gewähren, kann manchmal ganz vernünftig sein – bei jedem Nachrichtendienst sorgt man dafür, daß keine Einzelperson alles weiß, und daß lediglich die allerobersten Chefs das Recht haben, alles zu erfahren, wenn sie fragen. Dennoch war John Møllers ermahnende Bemerkung völlig überflüssig. Bojskov wußte, worin seine Aufgabe bestand. Er träumte nicht einmal davon, im Fall Jörg Meyer noch einmal herumzuwühlen, ob es nicht doch noch einen kleinen Stein gab, der nicht umgedreht worden war – tja, es hätte höchstens ein Sandkorn sein können, das irgendwo dazwischengerutscht war, ohne daß einer es bemerkt hatte. Soviel hatte er doch aus den Zeitungen herausgelesen, die seine Hauptinformationsquelle gewesen waren.
Aber wenn alles überstanden war, durfte ein Geheimdienstmann des eigenen Dienstes doch nicht auf Hindernisse stoßen, wenn er den Fall durchsehen wollte. Und doch war es so. John Møller hatte die Akten kräftig gesiebt, und Bojskov konnte nur mit Mühe und Not eine Chronologie erstellen.
Am 7. Januar 1973 ging der Seemann Rudolf Samiec in der belgischen Hafenstadt Zeebrügge auf eine ausgedehnte Sauftour. Auf dem Heimweg schwankte Samiec dermaßen, daß er statt in seine Koje ins Hafenbecken fiel. Niemand beobachtete das Unglück oder hörte die Hilfeschreie des Ertrinkenden. Am folgenden Tag wurden im Leichenschauhaus Identität und Todesursache festgestellt. Rudolf Samiec, geboren am 14. Dezember 1941. Die Eltern waren während eines Fliegerangriffs umgekommen, er hatte keine weiteren Angehörigen. Der Fall Samiec war für die belgischen Behörden mit dem Begräbnis abgeschlossen. Die persönlichen Papiere des Ertrunkenen erhielt der westdeutsche Konsul, und durch ihn als Mittelsmann landeten diese Dokumente in Ost-Berlin. Rudolf Samiec war westdeutscher Staatsbürger gewesen, aber geboren wurde er in dem Teil Deutschlands, der nach der Teilung die Deutsche Demokratische Republik genannt wurde. Und vertraglich ist zwischen der BRD und der DDR festgelegt, daß die Papiere eines Toten der Heimatgemeinde ausgehändigt werden müssen.
Am 4. September 1973 saß ein ca. 1,70 cm großer, dunkelgelockter, zweiunddreißigjähriger Mann im Hamburg-Expreß. Er hatte eine einfache Fahrt nach Kopenhagen gelöst. Das war vielleicht ein bißchen optimistisch, denn weder seine Bekleidung noch sein Gepäck ließen vermuten, daß er es sich leisten konnte, länger dort zu bleiben. Der Reisende sah eher wie ein Student aus, für den die Zeit gekommen war, Rebellion und Kneipendiskussionen zu vergessen und sein Studium abzuschließen – sonst würde es bald zu spät für ihn sein.
In Rødby beachtete ihn der Zöllner kaum. Für einen potentiellen Drogenschmuggler wirkte er nicht ausgeflippt genug, und für einen Schnaps- oder Zigarettenschmuggler sah er zu ärmlich aus. Der Paßbeamte war ebenso uninteressiert. Der Name Rudolf Samiec sagte ihm nichts – jedenfalls stand er auf keiner Interpolliste.
Der einsame, unglückselige Seemann war durch einen sicheren, intelligenten Burschen ersetzt, der sich bald an der Kopenhagener Universität einschrieb, nachdem er Dänisch in Abendkursen gelernt hatte. Die Erklärung dafür muß man in der Normannenstraße 21–22 in Ost-Berlin suchen, wo das Ministerium für Staatssicherheit untergebracht ist. Dort werden keine geringen Anstrengungen unternommen, um andere Staaten zu verunsichern. In der Normannenstraße 21–22 hatten ein paar Offiziere geduldig darauf gewartet, daß ein willkommenes Unglück geschieht. Sie hatten nämlich einen jungen Universitätsstudenten für Spezialaufgaben ausgebildet, und eine neue Identität war alles, was noch fehlte, um die Operation anlaufen zu lassen.
Wenn der wirkliche Samiec die Eigenschaft des falschen gehabt hätte, Kontakte zu knüpfen, unvorhergesehene Situationen zu meistern, nette, kluge Mädchen zu finden und für sich einzunehmen, wäre er vermutlich nicht so elend in einem trüben Hafenbecken ums Leben gekommen.
Der zweite Rudolf fand erstaunlich schnell ein Zimmer im Grønjordskollegium auf Amager, und ebenso erstaunlich schnell hatte er eine feste Beziehung mit der Musikstudentin Jonna. Das Verhältnis war eine Zwischenstation für den falschen Rudolf Samiec – er war nicht nach Dänemark gekommen, um seine musikalischen Interessen zu pflegen. Bereits im Herbst 1973 fand Jonna heraus, daß Rudolf nicht der war, für den er sich ausgab. Er hatte erzählt, daß seine Eltern während eines Bombenangriffs der Alliierten umgekommen seien und daß er in Hamburg gewohnt hätte. Ein Telefonat mit dem Einwohnermeldeamt lieferte Jonna den Beweis, daß Rudolfs Geschichte nicht stimmte, jedenfalls nicht in diesem Punkt.
Warum wollte er auf diese Weise seine Spuren verwischen? Jonna überlegte und vertraute sich einer Freundin an, die wiederum Rudi (so wollte er am liebsten genannt werden) in die Entdeckung einweihte.
Die Beziehung zwischen Jonna und Rudi war vorbei. Nicht weil sie versucht hatte, ihn zu überprüfen, sondern weil sie als Musikstudentin nicht das Mädchen war, was er brauchte. Er setzte sein Studium und die Talentsuche fort, und eines Tages, am 1. Mai, hatte Rudi Glück.
Der 1. Mai 1975 war ein besonderer Tag. Die Amerikaner hatten Südvietnam geräumt, Kambodscha war von den Roten Khmer eingenommen, und die provisorische Revolutionsregierung übernahm an ebendiesem Tag die volle Kontrolle über das vom Krieg verwüstete Südvietnam. Jetzt brauchten sich die Studenten in den westlichen Hauptstädten nicht mehr länger vor den amerikanischen Botschaften heiser zu brüllen. In den Kollegien, in den Kneipen und in den engagiertesten Zirkeln beim Maifest im Fælledpark wallte die Revolutionsromantik noch einmal so richtig auf.
Bevor dieser Tag zu Ende ging, waren Revolution und Romantik bei dem falschen Rudolf eine höhere Einheit eingegangen. An diesem Abend traf er Katrine Sommer, sprachenstudierende Arzttochter aus Grindsted.
Rudi setzte alle Segel, und nur sieben Monate später war Katrine Sommer soweit, daß er sie einigen Freunden vorstellen konnte. Den äußeren Rahmen lieferte ein Ärztekongreß in Helsingfors. Rudis ›Arztfreunde‹ waren die Stasioffiziere Jürgen Rogallo und Berndt Gentz.
Als die Stasimänner nach Ost-Berlin zurückkehrten, waren sie sich einig, daß Katrine die richtige Bekanntschaft für Rudi sei. Sie hatte einen bürgerlichen Hintergrund, sie war ideologisch zu motivieren, und sie studierte im Hauptfach Französisch.
Der erste Schritt bestand nun darin, Katrine Sommer zu bewegen, sich um eine Stellung zu bewerben, die für die Ostberliner von ausreichend strategischer Bedeutung war. Das Außenministerium war der Ort – und ihre Französischkenntnisse waren die Eintrittskarte. Auf diesem Gebiet ist in der Zentraladministration die Konkurrenz nicht sonderlich groß.
In einem weiteren Schritt sollte Rudi nach und nach Liebe und Druck mischen, bis Katrine endlich bereit war, Dokumente des Ministeriums zu kopieren oder zu stehlen.
Alles gelang. Katrine Sommer wurde als freie Mitarbeiterin im Energiebereich der Marktabteilung, M III, Stormgade 10, eingesetzt. Am 13. November 1978 um 16.42 Uhr schnappte die Falle zu, als Rudi in seiner Wohnung, Rolfsvej 15 in Frederiksberg, festgenommen wurde.
Wenige Tage später gab der falsche Rudolf zu, daß sein richtiger Name Jörg Hermann Otto Meyer sei und daß er selbst ostdeutscher Staatsbürger war, geboren am 2. Februar 1944 in Oslo im Feldlazarett I/509. Etwas anderes oder mehr bekamen Bojskovs Kollegen nicht aus ihm heraus, obwohl er fast ein Jahr in Isolationshaft verbringen mußte. Bis das Østre Landsret am 5. November 1979 das Urteil fällte: sechs Jahre Gefängnis. Mit Jörg Meyer hatte der PET einen waschechten Perspektivagenten enttarnt. Seine Einsatzmittel bestanden aus der altbekannten Mischung von Liebe und Pression. Und er hätte großen Erfolg damit haben können. Sein Aufstieg wurde gestoppt, weil die Fremdenpolizei bei einer Routineuntersuchung auf seine falsche Identität aufmerksam geworden war. So wurde der Fall jedenfalls offiziell in den Unterlagen des PET dokumentiert, aber Bojskovs private Vermutung ging dahin, daß alles beim Verfassungsschutz in Köln begonnen hatte.