Zehn Jahre, zehn Tage. Walther von Hollander
er im Gegensatz zu ihr die Kraft hat, die Hunger- und Frostjahre von 1918 bis 1924 zu wiederholen?
Antwort: Achselzucken, heftiges Schnaufen, Riesendampfwolken.
Außerdem: Ob es nicht ganz nützlich ist, daß jemand die sechzig Patienten vor den größten Dummheiten des Geheimrats schützt?
Nein: Wie der Kommandierende im Krieg seinen Stabschef hielt, der seine Dummheiten zu verhindern hatte, so hält und bezahlt der Anstaltskommandierende den Oberarzt. Das ist die Ordnung der Welt.
Also um was geht es diesmal? Der Malariatod der Frau Told?
Verschmerzt!
Die Entmündigung des Schauspielers Berger?
Unvermeidlich, obwohl man die Erben noch jetzt lachen hört.
Also doch wieder Dahl?
Keine Antwort.
„Also was?“
„Ein Brief der Tochter, die ihn befreien will. Kennst sie ja. Sitzt in Hirschberg, dreiundzwanzig Jahre alt. Wartet. Sie denkt, er kommt, weil sie wartet. Schreibt: Hast genug gebüßt. Denkt, weil sie recht hat, muß was zu machen sein. Hat recht, aber das nützt nichts.“
Frau Troplowitz nickt. Es ist nichts weiter zu fragen. Sie haben Dahls Schicksal genug hin und her verhandelt. Sie weiß, daß der Baron entweder als Irrer oder als Mörder zu gelten hat. Entläßt man ihn hier, so verfällt er dem Zuchthaus. Verfällt er dem Zuchthaus, dann wird er bestimmt verrückt. Das Irrenhaus hat einen Ausgang ins Zuchthaus, das Zuchthaus einen ins Irrenhaus.
Sie setzt sich aufs Fensterbrett, beugt sich weit nach hinten, reckt sich, stöhnt. Es tut gut, daß alles auf dem Kopf steht. Die Häuser in den dunkelblauen Abendhimmel zu fallen suchen. Mitsamt den dienstfreien Wärtern, die einen kleinen Skat im Hof arrangieren, Mundharmonika spielen oder rauchend in den winzigen Vorgärten der Wärterbaracken herumsitzen.
Als sie sich wieder aufrichtet, ist Troplowitz verschwunden. Sie sieht erschrocken in der Ecke neben dem Klavier nach: das Schachspiel ist fort. Er ist also zu Dahl gegangen. Sie klappt den Klavierdeckel zurück, klimpert unentschlossen. Fühlt dabei, wie ihr breites dämmeriges Gesicht wieder heller wird. Vor dem Unvermeidlichen fürchtet sie sich nicht. Es kann nichts Schlimmeres geschehen, als daß sie beide wieder ihr kleines Behagen einbüßen. Höchstens hätte sie ihrem Mann noch gern gesagt, daß er es nicht um etwas ganz Aussichtsloses aufs Spiel setzen soll. Aber einerlei.
Sie setzt sich und fängt an, eine Tokkata von Bach zu hämmern. Streng, verbissen und sauber.
Im schweren Frauenhaus schreit eine Frau. Es ist Frau Breise. Ihr Mann ist um diese Stunde bei Verdun gefallen. Sie schreit und — Frau Troplowitz weiß es — wirft ihren Kopf wie eine Glocke hin und her. Dann knallt ein Fenster zu. Unheimliche Stille, in die viele Ohren hineinhorchen.
Dahl will wirklich fliehen
Dahl hat den Schrei auch gehört. Er nimmt den Kneifer ab, schließt die geröteten Augen und schiebt das Schachbrett fort.
„Frau Breise“, seufzt er. „Gleich fängt Bulitza, das Haupt der Bojaren, an.“
Troplowitz erhebt sich, nimmt eine der langstengeligen Zigaretten, starrt seinen Patienten mißmutig an.
„Sie werden mir helfen“, sagt Dahl endlich leise, und nach einer Weile fügt er hinzu: „Ich habe mich nämlich entschlossen zu gehen.“
Troplowitz sagt nichts. So offen haben sie noch nie zusammen gesprochen. Wie komisch, denkt er, warum erschrecke ich über Dinge, die ich längst weiß. Es ist doch peinlich, wenn sich jemand offenbart.
„Ich habe meine Sachen schon so weit beisammen“, fährt Dahl fort, „wenigstens Geld, Zigaretten, mein Tagebuch, Mantel und Stock.“
„Nun — und?“ fällt der Arzt böse ein. „Nun — und? Ich werde mit Ihnen aus dem Haus gehen, durch den Park, durchs Gästehaus, dann sind wir auf der Straße. Wenn wir hinausgehen, wird der Pförtner eine Verbeugung machen, und wenn ich allein wieder hereinkomme, eine Anzeige beim Geheimrat. Nein, sagen Sie nichts. Meinetwegen, wenn es nicht anders geht, können wir es so machen. Aber: ich muß es einsehen. Ich weiß wirklich nicht, was wollen Sie, was können Sie draußen tun?“
Dahl schüttelt den Kopf. Wenn man es in Worte fassen soll, scheint das Unternehmen aussichtslos.
„Ich will mich nicht verbessern“, versucht er, „das Heimweh ist vorbei. Die Frauen. Man überwindet auch das. Es ist Trainingssache. Also?“
Er hebt die Schultern, bleibt regungslos so sitzen, sieht aus wie ein kranker Vogel.
„Also was wollen Sie?“ drängt Troplowitz. „Wozu soll das Ganze sein?“
Der Baron sieht auf die Uhr, seufzt. „Sie wartet schon so lange“, sagt er dann. „Aber natürlich ist es das nicht. Nein, es muß nochmal entschieden werden. Damals hat man es mir zu leicht gemacht. Ich brauchte nur zuzustimmen, da war auch schon die Autorität da, der Geheimrat, gegen den kein Wissenschaftler aufzutreten wagte. Es war nicht einmal nötig, ihn zu kaufen. Ein Dahl, der eine Bahnwärterstochter heiratete, war für ihn von vornherein irrenhausreif. Und das Zuchthaus machte mir Angst. Ich dachte, ich müßte ein Dahl bleiben und wollte nicht Nummer Soundsoviel werden, wie man das in Filmen sieht, mit gestreiftem Anzug und einer Nummer auf der Mütze. Aber nun, nicht wahr, nun könnte ich ja doch Zuchthaus wählen. Dies hier, das ist klar, hat keinen Sinn. Wie lange kann man unter Verrückten herumsitzen, ohne selbst ...“ Er macht eine ungeduldige, wegwischende Bewegung.
Troplowitz faßt zusammen: „Sie wollen also zu einem Arzt, der Sie so gesund findet, wie Sie sind, zu einem Anwalt, der Sie so schuldig findet, wie Sie nicht sind.“
„Nein, das ist noch nicht alles.“ Der Baron will alles ganz genau bereden. Er muß Inventur machen. Er muß sich selbst begreifen, er muß abrechnen. Nein, keine Angst: nicht mehr mit dem Gewehr. Eher im Gegenteil. Das Frühere: man wird bestohlen, man wird verrückt, also rächt man sich — das Frühere ist vorbei. Es ist ihm unbegreiflich. Er muß sich die Gründe von damals mühsam zusammensuchen. Er kann den Alfred Dahl, der seinen Bruder umknallte, zur Not verstehen. Aber er hat nichts mit ihm zu tun. Schrecklich! Er büßt für einen Fremden.
Er ist aufgestanden, nimmt Hut und Mantel aus dem Schrank, den übermäßig langen grünen Mantel, mit dem er vor zehn Jahren gekommen ist, den kleinen Jägerhut mit den Hirschzähnen und den Stock, den man ihm gelassen hat, weil er so ruhig ist (nur die Spitze ist abgenommen).
„Kommen Sie“, sagt er ein wenig herrisch, „es ist zehn Uhr.“
Aber Troplowitz, der eben noch bereit gewesen ist, will nicht mehr. Er sieht es nur halb ein. Er kann wohl die Augen schließen und Dahls Vorbereitungen übersehen. Womöglich wird er ihm eine Gelegenheit geben. Morgen. Nein, heute nicht. Er muß überlegen, sein Risiko abschätzen. Er muß für seine Frau sorgen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sie ein Kind bekommt, und dergleichen halb richtiges, halb falsches, schnell und unter verlegenem Bartkrauen Dahingeredetes. Er läßt den Baron nicht mehr zu Worte kommen, nimmt ihm Hut, Mantel, Stock und schließt alles wieder ein, drückt ihm die Hand und läuft hinaus.
Er rennt mit dem Türschlüssel in der Hand durch den kahlen Gang, am Nachtwächter vorbei, schließt die Innentür, die Außentür, läuft über den Hof ins Postbüro und diktiert dem nachtwachenden Fräulein folgendes Telegramm:
„Baronesse Dahl, Schwarzer Adler, Hirschberg. Abreise Baron Dahls mindestens verzögert, wahrscheinlich unmöglich. Warten zwecklos. Dr. med. Samuel Troplowitz, Oberarzt der Hellwigschen Heilanstalt.“
Das nachtwachende Fräulein muß lachen. Den Kopf bedauernd wiegen. Wieder so ein Telegramm, um die Angehörigen oder die Kranken zu beruhigen. Sie würde gern ein Gespräch anknüpfen. Aber der Oberarzt antwortet gar nicht. Er verläßt das Büro schnell.
Als er sich im Flur seiner Wohnung im Spiegel sieht, mit roten Augenlidern unter den rotbraunen Brauen, weißem Gesicht im fahlen Bartrahmen, löscht er schnell das Licht wieder, zieht