Zehn Jahre, zehn Tage. Walther von Hollander

Zehn Jahre, zehn Tage - Walther von Hollander


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Hellwig die Flucht. Der Geheimrat hat sich gerade die Serviette unter dem weißen Bart um den Hals geknüpft und mit seiner Frau zu Tisch gesetzt. Er ist sowieso zornig. Denn die Kartoffelpuffer, auf die er sich den ganzen Tag gefreut hatte, sind lappig, hellgrün. Er wünscht sie kroß und goldbraun. Wie oft soll er das sagen. Nun darf er aufspringen, die Serviette auf den Stuhl werfen und unbeherrscht losbrüllen. Er schreit den Wärter an, der die engere, den Oberarzt, der die weitere und wichtigere Verantwortung hat. Er klagt, daß er der Behörde gegenüber geradestehen muß, und versichert seiner Frau, die zu trösten wagt, daß man bei Mehrung solcher Vorfälle die Bude zumachen kann. Rennt dann ins Büro, läßt die Alarmglocke schrillen, die dienstfreien Wärter antreten.

      Er hält — neuer Zeitverlust — eine donnernde Rede gegen die Verschlampung des Betriebes, setzt sich an die Spitze des in Schützenlinie ausgeschwärmten Personals und durchsucht das Anstaltsareal Meter für Meter. Patrouillen in Regencapes und mit Regenschirmen werden ins Vorgelände geschoben, halten sich zornig unter den ersten Bäumen des Waldes oder begeben sich direkt zu Reimanns Gasthaus, um einen Iserbittern oder Stonsdorfer zu nehmen.

      Um halb neun sieht der Geheimrat Dahls Flucht als gelungen an. Sein Plan ist fertig. Er wünscht die Sache nicht an die große Glocke zu hängen. Wozu den traurigen Fall aufrühren? Man muß die Ruhe der Familie schonen. Dahl gehört ja (Nanu? Mit einemmal?) nicht zu den gefährlichen Irren. Er wird kein Unheil anrichten, selbst wenn er ein paar Tage draußen bleibt.

      Die Behörden sollen also nichts erfahren. Hingegen muß man die Familie telegrafisch benachrichtigen. Den alten Dahl sowohl wie die „falsche“ Baronin, die geborene Kagen. Troplowitz soll noch am gleichen Abend nach Hirschberg fahren und von dort aus am andern Tag die verschiedenen Angehörigen und unter Umständen die wenigen Freunde, deren Adressen man durch die Korrespondenz kennt, aufsuchen. Bei einem von ihnen muß der Ausgerückte zu finden sein.

      Troplowitz ist sofort bereit. Noch bevor die Telegramme weg sind, sitzt er mit einem kleinen Lacklederkoffer, in einem hellbraunen weiten Mantel und mit einem beigefarbenen, rundgeschnittenen Hut (scheußlich steht er zu dem hellroten Bart), im Auto.

      Als Adresse gibt er dem Geheimrat den „Schwarzen Adler“ in Hirschberg an. Er hofft, Alice Dahl noch dort zu treffen und mit ihr das Wichtigste verabreden zu können.

      Falls Dahl nicht in Sicherheit gebracht wird, ist er nämlich — das weiß Troplowitz genau — in zwei, drei Tagen gefaßt, und die Flucht war umsonst. Übrigens ist ihm nicht ganz klar, ob er dem Baron, wenn er ihn nun findet, weiterhelfen wird. Gar nicht unmöglich, daß er ihn verhaften läßt.

      Ankunft Alices in Jedelbach

      Wir springen zurück: Alice Dahl hatte schließlich, genau wie ihr Vater, bis elf geschlafen. Sie trank dann vor dem Hotel, zwischen Efeuwänden, ihren Kaffee. Die Straßenjungen standen vor ihr und wurden zur größten Empörung des Adlerwirtes mit seinen frischen Buttersemmeln und den noch gut verwendbaren Zuckerstücken gefüttert. Sie wollten sich zuerst um die Bissen prügeln, aber die Baronesse stellte sofort ihre Ordnung her. Erst kam der Kleinste, dann der Größte und zuletzt der Mittlere. Sie war gegen Altersrangstufen.

      Als es zwölf schlug, erschrak sie. Es war nun doch zu spät, in Rödeln Station zu machen, um „Vaters zweite Frau“, die Baronin Dahl, geborene Kagen, zu besuchen. Ja, sie mußte zugeben, daß sie sich mit den Straßenjungens so lange beschäftigt hatte, um sich zu verspäten. Schade nur um den kleinen Jens Peter, den sie sehr liebte, der niemanden hatte, zu dem er fliehen konnte, wenn ihn seine Mutter bedrückte oder der falsche Adam, der alte Diener, oder die Mutter Kagen, die ja alle schon halb tot waren, weil sie nach rückwärts starrten auf Glück oder Verfehlung der Vergangenheit.

      Alice nahm dann den Mittagszug und kam kurz nach vier — also gleich nachdem die Flucht ihres Vaters aus Magersdorf geglückt war — mit der Kleinbahn in Station Jedelbach an. Der Wagen war da mit dem alten Glüsing als Kutscher, und am Bahnsteig stand Mohr, der Hausmeister, in der Dahlschen Livree, dunkelgrün mit Resedaaufschlägen und silbernen Knöpfen.

      Die Baronesse mußte Schirm und Handtasche abliefern, und sie begriff dabei, wie schwer ein gefangener General seinen Degen abgibt, obwohl er ihn nicht braucht. Zwanzig Minuten bergan: dann konnte man auf der Hochebene Schloß Jedelbach liegen sehen, einen weißen Barockbau zwischen Riesenbäumen, unheimlich groß in seinen Ausmaßen und doch zierlich durch den Schwung seiner Linien.

      Die Sonne schien, die Mauern glänzten, die Fenster warfen Blitze. Alice war ein wenig stolz auf ihr Heimatschloß und sehr bange, weil ja alle Größe und Schönheit nichts genutzt hatte.

      „Wir haben ein Schloß im Isergebirge“, das klang ganz schön. „Aber außer mir ist nur noch eine fünfundvierzigjährige Tante da und ein sechsundsiebenzigjähriger Großvater.“ Das war schon nicht so ermunternd.

      „Meine Mutter starb, als ich fünf war.“ Das konnte man noch sagen. „Und Ihr Herr Vater —?“

      Da mußte man dann flüstern, er sei krank, oder man mußte Mut fassen und sagen: „Er ist im Irrenhaus.“ Und ganz guten Freunden, den allerbesten, mußte sie gestehen: „Entweder ist er verrückt, oder er hat gemordet. Wissen Sie, nicht eigentlich Mord, nicht so aus Wut oder aus dem Hinterhalt. Es war mehr ein Duell. Allerdings ein Waldduell, ohne Zeugen. Ein Krieg eines gegen einen.“

      Um fünf Uhr fuhr der Wagen in den Hof. Tante Jella stand auf der Freitreppe in ihrem großen weißen Tuch, mit grauem Haar und den immer gleichen kirschfarbenen Wangen. Der Großvater machte seinen Nachmittagsritt. Im Zimmer war nichts verändert. Der Blick ging durch die Pappelallee bis zu den Fabrikschornsteinen, die wie Zeigefinger die Lage der Stadt meldeten. Um sechs Uhr brachte Mohr ein Telegramm: „Hagungogagee. Das Wölfchen.“ Es war von Wolf v. Haacke aus Florenz, und „Hagungogagee“ hieß in ihrer Räubersprache soviel wie: „Ich liebe dich.“ Das war ein rechter und ein nötiger Trost.

      Denn das Abendessen ist zum Fürchten langweilig. Im riesigen Speisesaal sitzen sie zu dreien. Das Kaminfeuer malt die Gesichter von Jens und Jella Dahl rot an. Der Alte, schneehaarig, mit gelben wuchernden Augenbrauen und weißem Seehundsbart im lederschrumpfigen Gesicht, fragt nur nach den Bekannten in Florenz, dem Konsul, der Freifrau v. Seel, einer geborenen v. Grabenitz, bei der Alice in Pension gewesen ist. Dann ist diese Reise erledigt und wird nicht mehr erwähnt. Denn es ist ihm nicht recht gewesen, daß „ein junges Mädchen allein spazierenfährt“.

      „Willkommen“, sagt er noch heiser und stößt mit ihr an, ohne sie anzusehen.

      Um halb acht, gerade als der Alte sich zurückziehen will, kommt das dringende Telegramm aus Magersdorf. Jens Dahls Zigarre beginnt im Munde zu schwingen und fällt funkensprühend auf den Boden.

      „Hier“, sagt er leise zu seiner Tochter, „hier, also doch, er ist unterwegs.“

      Er springt auf, daß der Stuhl in Mohrs Arme fällt, rafft das Telegramm, zerknüllt es in der Hosentasche und rennt hinaus.

      Jella und Alice Dahl erheben sich langsam. Keiner spricht. Jeder geht zu einer anderen Tür hinaus. Draußen stehen sie, die eine an einen Schrank, die andere an eine Tür gelehnt. Beide weinen.

      Erste Station zwischen Stationen

      Währenddessen marschiert Dahl auf einer dämmerigen Waldstraße. Der Himmel geht dicht über den Bäumen mit geschwinden grauen Wolken. Wind marschiert mit. Ab und zu kommt ein Regenschauer, fährt trappelnd ins Laub oder klatscht gegen die Baumstämme. Der Baron hat den Kragen des Mantels hochgeschlagen, den Hut in die Tasche gesteckt.

      Es ist ihm immer noch merkwürdig, geradeaus zu gehen, und immer weiter geradeaus, ohne daß eine Mauer kommt, ohne daß er den Weg wiederholen müßte. Ein richtiger kleiner Rausch hat ihn gepackt. Er fuchtelt mit seinem Stock wie ein Fechter durch die Luft. Er marschiert mit lautem Tritt, er singt mit seiner merkwürdig blassen Stimme ein Marschlied. Auf den Weg richtig zu achten vergißt er. Oder will er gar nicht nach Hirschberg, sondern direkt nach Rödeln zu Henriette?

      Gegen halb elf kommt er zu einer Waldschenke. Es brennt noch Licht. Er macht die Tür vorsichtig auf. Die Wirtsfrau schreit laut.


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