Zehn Jahre, zehn Tage. Walther von Hollander
der Stammtisch und ein Brief
Alice Dahl sitzt im großen Speisesaal des „Schwarzen Adler“. Sie hat den weißen Hut mit einer Kappe in der Farbe ihres Mantels vertauscht. Der alte Kellner steht über sie gebeugt und liest zärtlich die Speisekarte vor, als hätte eine so junge Dame noch nicht das Lesen gelernt.
Drüben in der Stammtischecke hocken die Hirschberger Honoratioren in einer Wolke von Tabakdampf. Alice kennt alle. Den Schlachter Grotefeld, den Arzt Heubach, den Apotheker Staumann, den Lehrer Perse, den Juwelier Reichenberg usw. Alle kennen sie, aber sie grüßen nicht. Allein gilt die Baronesse nichts.
Sie sitzt klein und etwas krumm in ihrem sesselartigen Stuhl. Wenn die Tür aufgeht, hämmert ihr Herz. Einmal zuckt sie zusammen: ein langer grüner Mantel tritt ein. Ein Jägerhut. Aber es steckt der Oberförster Winnig drin.
Die Hirschberger haben das Flüstern nicht gelernt. So bekommt Alice zur Bouillon mit Ei den Niedergang der Dahls serviert, der von Jens Dahls Laxheit herrühren soll. Lieber Himmel, was für ein Unsinn! Zum Beefsteak erfährt sie, daß der getötete Wolfgang Dahl viel netter gewesen ist als Alfred Dahl, ihr Vater. Schöner auch, schneidiger in der Wandsbeker-Husaren-Uniform. Daß alle Frauen hinter ihm her waren (jetzt, da er tot ist, wird auch das gelobt). Alice kann das nicht begreifen. Es hängen ja genug Bilder in Jedelbach. Wie konnten die Frauen auf dies Lächeln hereinfallen, auf dieses Stuckprofil.
Zum Kaffee endlich und weil sie eine Zigarette raucht, was in Hirschberg als Frauenlaster gilt, muß sie hören, daß Jens Peter Kagen-Dahl, ihr kleiner Stiefbruder, von den Hirschbergern nicht anerkannt wird. Alfred Dahl hat ihn zwar ehelich erklären lassen. Aber das genügt den Stammtischlern nicht. Beim Adel halten sie auf Ebenbürtigkeit, und kein Gesetz wird ihnen einen unehelichen Bengel in einen ehelichen umzaubern.
Alice geht noch ein Stück spazieren. Es ist sehr warm in den engen Straßen. Aber sie friert. Sie begreift langsam, daß ihr Vater nicht kommen kann. Sie ist sehr böse auf sich. Wie romantisch hat sie das wieder angesehen. Man schreibt einen Brief, man leidet ein paar Jahre, man schreibt wieder, und das genügt, um ein verfahrenes Leben ins Gleis zu bringen!
Um neun Uhr ist sie auf ihrem Hotelzimmer. Das Zimmermädchen hat die Fenster geschlossen. Es riecht nach Odol und feuchter Wäsche. Auch alter Menschengeruch ist noch zu spüren. Sie wäscht sich, so gut es in der winzigen Waschschüssel geht. Zieht ihr längstes Hemd an und eine Bettjacke mit Ärmeln. Schläft gleich ein. Um elf klopft der Hoteldiener, bringt das Telegramm aus Magersdorf. Alice wird dadurch nicht mehr trauriger.
Sie liegt, hört die Stammtischler nach Hause gehen. Ein Reisender — er muß es sein, weil er der einzige Gast außer ihr ist — klinkt vorsichtig an ihrer Tür. Die Hirschberger Hunde erheben ihr großes Nachtgebell, sie bewachen die alten Häuser, denen niemand zu nahe treten will.
Alice holt sich Briefpapier, schiebt sich das Kissen aus dem nachbarlichen Ehebett unter den Rücken und schreibt:
„Lieber Junge!
Liege restlos gestrandet im Bett. Was in Florenz selbstverständlich scheint, ist hier unmöglich. (Übrigens stimmt das auch für uns, aber ich werde es doch möglich machen.) Jedenfalls von Vater keine Spur. Statt dessen eben ein Telegramm von dem jüdischen Oberarzt: Er kommt nicht oder später. Länger warten kann ich nicht. Ein Reisender klinkte schon an meiner Tür. Die Stammtischler sagen, es sei mit den Dahls zu Ende. Na, mit mir nicht, das sage ich Dir.
Lieber Wolf, sei nicht bissig. Lach mich nicht aus. Ich muß morgen nach Jedelbach, denke nur: Großvater, Tante Jella, Inspektor v. Viersen, Hausmeister Mohr, Fräulein Bosse, Frau Reinhardt — Himmel, Himmel! Wenigstens bin ich nicht mehr dieselbe, die weggefahren ist. Oder doch? Hier in Hirschberg scheint’s, als müsse alles in Ewigkeit beim alten bleiben. Du weißt, daß Du mir helfen mußt, wenn nötig.
Deine Alice.“
Sie liest das sorgfältig durch, dann löscht sie schnell das Licht. Die Tränen kommen angestürzt. Lieber will sie im Dunkeln weinen.
Eine von dreitausend Nächten
Alfred Dahl bleibt die halbe Nacht schlaflos. Er hat sein Bett ans Fenster gerückt. So ist die dunkle Freiheit des Sternenhimmels über ihm, ein Baumast nah, der über die Mauer streicht, wenn der Wind kommt.
Er sitzt halb aufrecht, in Bettdecke und Reiseplaid so eingewickelt, daß nur der Kopf heraussieht. Sein Gesicht bleibt die ganze Nacht unverändert, mit Querfalten zwischen den Brauen und Längsfalten über die schmale Stirn, mit festgeschlossenem Mund und halb heruntergelassenen Lidern über den blanken Augen, die allein noch Leben verraten.
In dreitausend Tagen und Nächten ist Zug um Zug starr geworden. Wenn keiner die Gedanken hinter der Stirn ernst nimmt, wie kann die Stirn wachsen? Wenn keiner nach den Worten hört — Worte von Kranken gelten ja nicht —, wie können die Lippen lebendig bleiben! Seltsam nur, daß man nicht das Sehen verlernt zwischen den immer gleichen Mauern, den paar Bäumen, der Ebene.
Im Anfang der Nacht ist Dahl sehr unruhig. Er hat Sehnsucht nach Alice. Er fürchtet für sie. Welche Veränderung in den letzten Bildern aus Florenz! Er spürt auch, daß der junge Mann mit der Baskenmütze und dem Auto seinen Anteil daran hat. Alice braucht mich, denkt Dahl, Alice braucht mich! Sein Herz klopft so stark, daß die Bettdecke sich bewegt. Gut, daß er es verlernt hat, gegen die Wände zu rennen und aus dem Fenster zu springen.
Gegen drei Uhr wird er ruhiger. Er spürt, daß er entkommen wird — und eine Leere dahinter. Er ist nahe daran, zu wissen, daß das nichts ändern wird. Eine Stunde noch sitzt er und kämpft gegen die betäubende Unentschlossenheit. Als der Frühnebel fällt, die Ebene dampft, steckt er eine Zigarette an. Mit dem kalten Mundstück zwischen den verkniffenen Lippen schläft er ein.
Die Flucht
Troplowitz kommt gegen elf. Er steht unentschlossen neben Dahl, sieht in sein Gesicht, fühlt seinen Puls. Schüttelt ihn. Dahl wacht nur schwer auf.
„Es wäre gut“, sagt der Arzt, „wenn Sie um vier Uhr am Gästehaus spazierengingen. Es ist dann für den Sonntagsdienst ein neuer Pförtner da, und hier ist ein alter Passierschein für Herrn Hermann Brause, Berlin. Sie können ihn ruhig abgeben. Der Pförtner kennt weder Sie noch ihn.“
Dahl nickt. Er möchte überschwenglich danken. Aber das Kommende steht zu dicht und drohend vor ihm.
„Ich habe schlecht geschlafen“, sagt er entschuldigend und muß gähnen. Troplowitz geht. Der Baron verbeugt sich formell und drückt ihm heftig die Hand. Der Arzt ist ganz verwirrt. Zum erstenmal zweifelt er an Dahls Verstand.
Gegen zwei Uhr kommen Wolken. Stehen eine Weile über dem Gebirge. Die Ebene wird dunkel. Um halb vier setzt mit langsamem, leichtem Tropfen Regen ein.
Dahl erscheint um dreiviertel vier im Park, im langen Mantel, mit Stock und Hut, unterhält sich kurz mit einem der Leichtkranken, geht noch den Weg an den Tennisplätzen vorbei, auf denen ein paar rabiate Spieler umherspringen. Fünf Minuten vor vier betritt er das Gästehaus.
Er kennt den Weg genau, weil er Alice das letztemal begleitet hat: zweimal geht der Gang um die Ecke. Dann kommt die Pförtnerloge. Er legt den Passierschein vor den Pförtner hin. Wartet noch ein paar Sekunden, ob er was sagen wird. Hofft vielleicht darauf, denn dann braucht er die Flucht erst gar nicht zu beginnen. Aber der Pförtner legt nur die Hand an die Mütze. Zwei Schritte noch. Eine Tür. „Nicht zumachen“, liest Dahl, „schließt von selbst.“
Dann ist er auf der Straße, geht langsam, wie er sich hundertmal vorgenommen, zum Walde hinüber, steigt einen kleinen Hügel hinauf und läuft dann, von entsetzlicher Angst gepeinigt, besinnungslos nach links durch feuchtes Gebüsch über regenglitschiges Laub in einen Talgrund hinein, läuft, bis er atemlos ist und nur noch stöhnend, röchelnd weitergehen kann.
Hellwigs Maßnahmen
Dahls Flucht wird erst um sieben Uhr bemerkt. Der Wärter Hannemüller findet das Zimmer leer. Meldet es Troplowitz, der gerade die Visite macht. Sie suchen das schwere Haus