Vom selben Blut - Schweden-Krimi. Åke Smedberg

Vom selben Blut - Schweden-Krimi - Åke Smedberg


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erwischt wurden. Aber wenn Lasse und ich uns trafen, endete es meist damit, dass wir zusammensaßen und solche Erinnerungen austauschten. Es gibt noch viel mehr Beispiele als die von mir genannten, und schlimmer noch, ich muss zugeben, auch solche, die ich nicht gern mit der Allgemeinheit teilen möchte. Und wir waren beide der Meinung, dass es mit uns auf die eine oder andere Weise böser hätte enden können und dass wir wohl vor allem dem Zufall danken müssen, weil nichts Schlimmeres passiert ist. Oder der Vorsehung. Und dass wir auch etwas davon gehabt haben, menschlich gesehen. Dass uns diese Erlebnisse hoffentlich weniger selbstgefällig, weniger schnell urteilend gemacht haben und gleichzeitig weniger naiv. Charakterzüge, die einem nutzen, sowohl als Priester als auch als Polizist. Und Lasse, ja, er verkörperte wohl auf gewisse Weise viel von dem Guten, das sich aus unseren Streichen ergab, das habe ich immer gedacht.«

      Er schwieg wieder, blickte kurz zur Seite, bevor er fortfuhr.

      »Lasse war groß, rein körperlich. Das wissen wir alle.« Er machte eine Geste, um das anzudeuten.

      »Aber nicht nur. Nicht nur äußerlich. Sein Herz war ebenso groß. Ja, das war wohl das Größte an ihm.«

      Nielsen sah zum ersten Mal direkt auf den Sarg, bisher hatte er das vermieden. Ja, Lasse war groß gewesen. Es war schwer, sich vorzustellen, dass sein Körper in diesem weißen Sarg da vorne lag, dass er dort überhaupt Platz fand. Es war noch schwerer, ihn sich tot vorzustellen. Es gelang ihm einfach nicht.

      Danach trugen sie den Sarg aus der Kapelle zum Auto, das während der Zeremonie vorgefahren war. Die Söhne am Kopfende, Nielsen in der Mitte zusammen mit dem Priester, die beiden alten Kollegen hinten. Als sie den Sarg ins Auto geschoben hatten, hielt er einen Augenblick inne, die Hände auf dem glatten Holz. Dann war er gezwungen, sich zu bewegen, da der Fahrer die Türen schloss. Er drehte sich um und stand direkt vor Lindståhl, der ihn aufmerksam musterte.

      »Ein guter Junge«, sagte er nachdrücklich und nickte, als wollte er das bestätigen.

      Nielsen nickte ebenfalls, ein bisschen überrascht.

      »Ja, sicher. Das war er. Das kann man sagen.«

      Der alte Polizeichef betrachtete ihn weiterhin, fast auffordernd, und Nielsen wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte sich müde. Leer, ausgelaugt. Er hatte keine Lust, ein paar mechanische Sätze über Lasses Qualitäten oder die Leere, die er hinterließ, zu stottern, und hatte ebenfalls keine Lust, Anekdoten über ihn zu erzählen. Keine Lust, überhaupt irgendwas zu sagen, mit jemandem zu sprechen.

      Eva winkte ihm zu, er verließ Lindståhl mit einem kurzen Nicken und ging zu ihr.

      »Wir essen im Svanberga«, sagte sie. »Nur wir. Die nächsten Angehörigen.«

      Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung der Söhne und, nach einem fast unmerklichen Zögern, in Richtung von Gisela.

      »Kennst du den Weg?«, fuhr sie fort. »Sonst kannst du hinter uns herfahren.«

      Er nickte ein wenig geistesabwesend und sah sie an.

      »Wird er hier beerdigt?«, fragte er.

      »Ja«, antwortete sie. »Das Grab seiner Eltern liegt hier. Und hier draußen ist es ja auch schöner. Naja, jetzt nicht, bei diesem Wetter, aber im Sommer. Wir setzen die Urne irgendwann nächste Woche bei . . .«

      Sie schwieg.

      »Er hat immer gesagt, dass er will, dass seine Asche irgendwo weiter draußen in den Schären verstreut wird«, sagte Nielsen nach einer Weile. »Am liebsten bei Sturm.«

      Eva sah ihn an.

      »So was sagt man«, entgegnete sie kurz, »wenn man nicht daran denkt, dass man sterben wird, oder nicht?«

      Sie schüttelte mit zusammengebissenen Zähnen den Kopf.

      »Ich möchte einen Ort haben, an den die Jungs, wenn sie das möchten, gehen können, um sich an ihn zu erinnern. Sie haben ihn in den letzten Jahren ja nicht so oft gesehen.«

      Nielsen starrte dem Auto hinterher, das sich langsam entfernte, auf die Landstraße bog und beschleunigte.

      »Es waren nicht viele hier«, sagte er. »Ich hätte gedacht, dass die Kirche mehr oder weniger voll sein würde.«

      Eva sah ihn rasch an.

      »So wollte er es eben haben. Nur die nächsten Angehörigen. Keine Umstände. Keine Anzeigen. Das weißt du wahrscheinlich?«

      Nielsen zuckte mit den Schultern.

      »Ja, vielleicht«, sagte er.

      Eva stand einen Augenblick schweigend da.

      »Er wollte es so«, wiederholte sie knapp.

      Sie drehte sich um.

      »Wir sehen uns dort«, sagte sie und ging zum Auto, wo die Söhne warteten.

      Nielsen sah ihr nach. Sicher hatte sie Recht. Lasse hatte nie viel für Zeremonien übrig gehabt. Gleichzeitig wurde er den Verdacht nicht los, dass es eine Art war, es ihm heimzuzahlen, für alte Kränkungen, alte Enttäuschungen. Und er fragte sich, warum Gisela es offensichtlich Eva überlassen hatte, die Beerdigung zu organisieren. Hatte sie trotz all der Jahre, die vergangen waren, ein schlechtes Gewissen?

      Er wartete, bis die Autos vom Parkplatz und auf die Landstraße gefahren waren. Dann ging er mit seinem leicht schaukelnden Gang zu dem weiter unten gelegenen Parkplatz.

      Es regnete nicht mehr, klarte schnell auf. Er verfolgte mit den Augen ein paar zerrissene, große Wolkenstücke, die rasend schnell über den fast farblosen Himmel jagten.

      Er war nicht ins Restaurant, sondern stattdessen an die Küste gefahren, nach Väddö. Er war langsam durch kleine Straßen gefahren, durch winterleere Ferienregionen, bis er am Strand angekommen war. Er hielt an, stieg aus und betrachtete die schwere, stahlgraue See. Das monotone Schauspiel der Wellen, das unterbrochen wurde, wieder begann, erneut unterbrochen wurde. Er war stehen geblieben, bis die Feuchtigkeit ihm die Kleider an den Körper klebte, dann war er zum Auto zurückgekehrt. Er war durch den stärker werdenden Regen zurückgefahren, hinter der Älmstabrücke war er nach Norden, Richtung Östhammar, abgebogen. Dann war er wieder abgebogen, fuhr durch Gimo und Harg, kehrte zurück zum Ausgangspunkt.

      Jetzt stand er auf einem Rastplatz einen knappen Kilometer von der Kirche entfernt, würde er um die nächste Kurve biegen, sähe er sie wieder. Der Ort lag direkt hinter ihm. Lasses Heimatort. Von dem er nie viel erzählt hatte. Und die Ereignisse, von denen der Priester und Freund aus Kindertagen erzählt hatte, hatte er überhaupt nie erwähnt, dachte Nielsen.

      Er blieb eine Weile. Jetzt wurde es rasch dämmrig, der Waldrand auf der anderen Seite des Feldes war kaum noch zu erkennen. Schließlich fuhr er los, sah, wie die Scheinwerfer kurz das dunkle Feld beleuchteten, bevor er die Straße erreichte und Gas gab.

      Es war Gisela gewesen, die ihn angerufen und es ihm erzählt hatte. Sofort als er ihre Stimme hörte, wusste er, dass etwas nicht in Ordnung war.

      »Es ist . . . Lasse . . . er . . .«

      Dann schwieg sie, und er wartete.

      »Er ist tot!«, brach es aus ihr heraus.

      Er erstarrte und hörte, wie sie das nach einer Pause laut hinausschrie.

      »Er ist tot, zum Teufel! Begreifst du das nicht! Er ist tot!«

      Er schnappte nach Luft. Fühlte sich schwindelig, musste sich an der Wand abstützen.

      »Erzähl, was geschehen ist«, sagte er heiser.

      Es war am Abend vorher passiert. Gisela hatte ihn auf dem Boden im Wohnzimmer gefunden, als sie nach Hause gekommen war. Er zeigte keine Lebenszeichen, aber sie war noch zu ihm gestürzt und hatte es mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage versucht, hatte weitergemacht, bis der Krankenwagen eingetroffen war.

      »Ich wusste ja«, sagte sie schluchzend, »dass es sinnlos war. Er war so kalt. Steif. Aber ich konnte nicht aufhören. Sie mussten mich von ihm losreißen. Ich konnte es nicht begreifen.


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