Der Islam. Malise Ruthven
Kindern hin und her geschwenkt wurden, die die medienerfahrenen Akteure der Terrororganisation im Internet präsentierten und sich dabei der ausgeklügelten Wirkmöglichkeiten ihres Mediums bedienten. Sie zielten [16]darauf, den Krieg zwischen dem Islam und dem Westen anzuheizen, für den Mörder wie Breivik oder Tarrant sich offenbar engagierten. Abu Bakr Naji, der die theoretische Grundlage für die Strategie der Online-»Schrecklichkeit« des Islamischen Staats schuf, betrachtete Brutalität als eine Möglichkeit, die Vereinigten Staaten und ihre westlichen Verbündeten dazu zu verleiten, ihren Stellvertreter-Einsatz gegen die Jihadisten mit Hilfe des Irak oder der kurdischen Milizen aufzugeben, und dazu zu zwingen, den Islam direkt zu bekämpfen – in einem Krieg, der zwangsläufig die muslimische Version eines Armageddon auslösen und unausweichlich im Sieg des Islam enden würde. Das Programm des neuseeländischen Mörders Brenton Tarrant hat nahezu denselben Wortlaut: In seinem kaum verständlichen, an Breivik orientierten Manifest schrieb er, dass eines seiner Ziele darin bestehe, »Gewalt, Vergeltung und weitere Spaltung anzuzetteln«, um »die Feinde meines Volkes zum Handeln anzustacheln, damit sie sich verausgaben und den endgültigen und unvermeidlichen Gegenschlag erleiden«.5 Einige traf der Gegenschlag sechs Wochen später: Am Ostersonntag 2019 verübten islamistische Terroristen Anschläge auf drei Kirchen und Luxushotels in Sri Lanka und töteten in einer Serie koordinierter Selbstmordattentate mehr als 250 Gläubige und Touristen. Obwohl ein örtlicher Jihadist als Verbindungsmann der Attentäter zum Islamischen Staat fungierte, behauptete die Regierung in Sri Lanka, dass die Massaker eine Vergeltung für das Attentat in Christchurch seien. Diese Auffassung wurde jedoch von Sicherheitsexperten widerlegt. Das Fehlen einer direkten Verbindung ist aber keineswegs ein Gegenbeweis gegen einen umfassenderen ideologischen Zusammenhang.
[17]So wie al-Qaida eine extreme, aktivistische Ausprägung politischer Meinungen darstellt, die zwar von einer weitaus größeren Anhängerschaft unter den radikalen Muslimen geteilt werden, ohne dass diese jemals in Betracht ziehen würden, die Grenze zwischen Denken und Handeln zu überschreiten, vertreten Breivik und Tarrant (ihren Manifesten nach zu urteilen) eine Reihe von Standpunkten, die Gruppierungen wie den Christian-Identity-Bewegungen, den »Anti-Jihadisten« oder der »paranoiden Rechten« zuzuordnen sind. All ihre Verfechter pflichten trotz ihrer eindeutigen Verurteilung der Massaker irgendeiner Variante der Theorie bei, dass sich Europa, ohne es zu ahnen, auf dem Weg in eine kulturelle Katastrophe befindet und islamistischen Terroristen ermöglicht, in europäischen Städten bedrohlich Fuß zu fassen.
Bin Laden polarisierte im Leben wie im Sterben. Nach Ansicht der bestehenden Regierungen und der großen Mehrheit der Muslime hat er die Botschaft des Islam für Gerechtigkeit, Frieden und Brüderlichkeit ins Gegenteil verkehrt, indem er Terroranschläge befahl, denen Tausende unschuldiger Menschen zum Opfer fielen, viele von ihnen Muslime. Für seine Bewunderer hingegen stellte er einen beispielhaften Helden dar, der nach dem Vorbild des Propheten Muhammad vordergründig ein genügsames und mutiges Leben führte und einen beträchtlichen Anteil seines Privatvermögens für den Kampf gegen die Feinde des Islam stiftete, vor allem gegen die Vereinigten Staaten und die mit ihnen verbündeten Regierungen in der muslimischen Welt »auf dem Pfad Gottes«. Sowohl Bin Ladens Leben als auch sein Tod haben einige der Fragen und Probleme geschaffen, die nachfolgend zu untersuchen sind.
Es ist kein einfaches Unterfangen, eine Definition des Islam zu geben. Wenn wir uns westlicher Begriffskategorien bedienen, die allerdings muslimischen Wahrnehmungsweisen sehr fremd sein können, müssen wir gleich zu Beginn Folgendes feststellen: »Islam« kann sowohl einen religiösen Glauben als [18]auch eine politische Ideologie bezeichnen; der Begriff kann weiterhin in gewissen Zusammenhängen zur Kennzeichnung der Identität eines Individuums oder einer Gruppe dienen. Diese drei Begriffsbestimmungen schließen sich weder gegenseitig aus noch sind sie ineinander enthalten.
Islam als Identität
Im Arabischen ist islam ein Verbalsubstantiv und bedeutet die Hingabe des Selbst im Angesicht Gottes, wie er sich durch die Botschaft und das Leben seines Propheten Muhammad geoffenbart hat. In seiner Grundbedeutung, wie sie zum Beispiel im Koran und anderen grundlegenden Texten verwendet wird, bezieht sich das Wort »Muslim« auf eine Person, die sich hingibt (vom aktiven Partizip des Verbs aslama ›sich hingeben‹). Jedoch gibt es eine zweite Bedeutung von »Muslim«, die in die erste mit hineinspielen kann. Demzufolge ist ein Muslim das Kind eines muslimischen Vaters, wobei er oder sie die konfessionelle Identität des väterlichen Elternteils übernimmt, ohne notwendigerweise die Glaubensgrundsätze und Praktiken der Religion zu befolgen – genau wie ein Jude oder eine Jüdin sich als »jüdisch« definieren kann, ohne die Gebote und Verbote der Halacha zu beachten. In nichtmuslimischen Gesellschaften kann die Identität solcher Muslime sowohl vom Selbstverständnis wie auch von der Rechtsposition her säkularer Natur sein. So sind die Muslime in Bosnien – Nachkommen von Slawen, die unter osmanischer Herrschaft konvertiert sind – nicht immer dafür bekannt gewesen, dass sie regelmäßig in der Moschee beten, sich des Alkohols enthalten, die Frauen von den Männern absondern und andere gesellschaftliche Praktiken befolgen, die gemeinhin mit gläubigen Muslimen in anderen Teilen der Erde in Verbindung gebracht werden. Sie wurden unter dem früheren kommunistischen Regime Jugoslawiens seitens der Behörden als [19]Muslime bezeichnet, um sie von den (orthodoxen) Serben und den (katholischen) Kroaten zu unterscheiden. Das Etikett »Muslim« kennzeichnet also ihre Zugehörigkeit zu einer ethnischen Bevölkerungsgruppe, ohne notwendigerweise etwas über die religiösen Überzeugungen der Mitglieder auszusagen. In diesem engen Bedeutungszusammenhang (der auch für andere muslimische Minderheiten in Europa und Asien gelten mag) ist es nicht zwangsläufig unmöglich, sowohl Muslim als auch Atheist oder Agnostiker zu sein – genau wie es ja auch jüdische Atheisten oder Agnostiker gibt. Im Gegensatz dazu verweist das Wort »Christ« oder »Christin« mittlerweile im normalen Sprachgebrauch auf eine rein konfessionelle Bindung: Auch wenn besonders fortschrittliche Theologen sich des Begriffes ab und zu bedienen mögen, ist ein »christlicher Atheist« für die meisten ein Widerspruch in sich, und das, obwohl wir nach wie vor von der westlichen als einer überwiegend christlichen Kultur sprechen können. Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass diese säkulare Definition des Begriffes »Muslim« (zuweilen begegnen auch die Bezeichnungen »kultureller Muslim« oder »nomineller Muslim«) keineswegs unumstritten ist. Genau wie die fundamentalistischen Christen in Amerika den Terminus »Christ« für sich reklamieren und damit ausschließlich diejenigen bezeichnen, welche ihre ganz bestimmte (für gewöhnlich enge) Version des Glaubens teilen, tendieren auch die muslimischen Aktivisten unserer Tage dazu, die begrifflichen Grenzen zwischen sich und den anderen Muslimen neu zu ziehen und alle auszuschließen, die ihre Ansichten nicht teilen. In extremen Fällen kann das so weit gehen, dass sie diese dann als »Ungläubige« bezeichnen. Alles in allem ist die Verwendung der verschiedenen Bezeichnungen wenig konsistent. Dort, wo Muslime, gleich wie verweltlicht oder lediglich »kulturell muslimisch« sie sein mögen, mit dem Rücken zur Wand stehen, werden sie, wie es in Bosnien geschah, wo 1995 tausende vielfach nicht praktizierende Muslime von Serben ermordet wurden, in der [20]politischen Rhetorik großzügig zu den Gläubigen gezählt. In Ägypten oder Tunesien dagegen, wo manche Eliten, die westlichen Wertvorstellungen zugeneigt sind, als zu säkularisiert betrachtet werden, wird nicht praktizierenden Muslimen möglicherweise der Stempel »Ungläubige« aufgedrückt«. Allerorts bezeichnen die Wörter »Islam« und »Muslim« ein Territorium, auf dem die Gebietshoheit heftig umstritten ist.
Der Islam als politische Ideologie
Das Wort »fundamentalistisch« wird manchmal dazu verwendet, jene Muslime zu bezeichnen, die mit allen Mitteln einen islamischen Staat errichten oder wiederherstellen wollen. Ihrer Ansicht nach ist es die Aufgabe des islamischen Staates, die Befolgung des geoffenbarten Gesetzes des Islam, der Scharia, zu erzwingen. Wegen des christlichen Ursprungs ist die Verwendung des Begriffes »fundamentalistisch« nicht unproblematisch: Ursprünglich war der Fundamentalismus eine Bewegung, die gegen die liberale oder modernistische Theologie zielte, wie sie in den protestantischen Priesterseminaren Amerikas gelehrt wurde. Im Mittelpunkt der Angriffe standen dabei besonders solche Lehrmeinungen, die ein wörtliches Verständnis bestimmter übernatürlicher Ereignisse in Frage stellten, sei es die Erschaffung der Welt in sechs Tagen, die jungfräuliche Geburt oder die körperliche Wiederauferstehung und bevorstehende Wiederkunft Christi. Muslimische Autoren und Ideologen,