Der Islam. Malise Ruthven
sie nicht an, wie viel an Gemeinsamkeiten zwischen vormals konkurrierenden Rechtssystemen durch das Werk dieses Mannes, das in die einheimische Gesetzgebung zahlreicher muslimischer Staaten Eingang gefunden hat, zutage gefördert worden ist. In der Praxis zielen Forderungen nach »Wiederherstellung« der Scharia zumeist auf bestimmte Aspekte des Strafrechts ab, und zwar besonders auf die körperlichen Züchtigungen, wie sie im Koran und der frühen muslimischen Überlieferung für sexuelle Straftaten und bestimmte Formen des Diebstahls ausdrücklich aufgeführt werden. In manchen Teilen der Welt haben die Strafen für hudud – Überschreitungen der »Grenzen« oder »Schranken«, die von Gott im Koran gezogen worden sind, mit genau genannten Sanktionsmaßnahmen wie der Amputation bei Diebstahl oder der Auspeitschung für außereheliche geschlechtliche Beziehungen – gerade deshalb diese symbolische Bedeutung erlangt, weil man in ihnen ein Mittel sieht, um den Freizügigkeiten Einhalt zu gebieten, die angeblich auf das schlechte Vorbild des »dekadenten« Westens zurückzuführen sind. Weniger umstritten ist das traditionelle islamische Verbot von riba, worunter alle Formen von Geldverleih gegen Zins zu verstehen sind. [31]Hier hat der althergebrachte Bann zu einigen kreativen Experimenten islamischer Banken geführt, was die Verteilung des finanziellen Risikos und die Gewinnbeteiligung nach Billigkeitsgrundsätzen angeht. Die Banken versuchen dabei, die Risiken für Gläubiger und Schuldner gerechter zu verteilen, als das vom herkömmlichen Bankwesen geleistet wird. In diesem Fall stellt das islamische Anliegen, in Geschäftsbeziehungen nach dem Grundsatz der Billigkeit zu verfahren, eine Herausforderung an eine durch die Finanzkrise unlängst erschütterte nachchristliche Welt dar, in der die Gier der Konzerne oft auf Kosten der Bedürfnisse des Einzelnen oder der Familie zunimmt. Im Allgemeinen sind die Forderungen nach einer »Wiederherstellung« der Scharia jedoch als ein Teil dessen zu begreifen, was der aus Algerien stammende inzwischen verstorbene Gelehrte Mohammed Arkoun als die »soziale Vorstellungswelt«7 der Muslime bezeichnete: die »Sammlung von Bildern« in einer Kultur über sie selbst und über andere Kulturen, wobei diese Bilder dazu führen, Analyse und objektive Selbstreflexion auszuschalten und gleichzeitig wahnhaften Vorstellungen Nahrung zu geben, die auf ahistorischen Visionen einer romantisch verklärten Vergangenheit beruhen.
Erfolge und Misserfolge des islamischen Staates
Die soziale Vorstellungswelt oder besser das soziale Gedächtnis bildet das Herz der kollektiven Bestrebungen, die sich auf ein Goldenes Zeitalter zurückbeziehen, als dar al-islam (die islamische Einflusssphäre, in der islamischen Rechtsüberlieferung unterschieden von dar al-harb, der Zone des Krieges) noch [32]expandierte und die muslimischen Gemeinwesen auf allen Gebieten einer Zivilisation, in den Künsten wie in den Wissenschaften, Hervorragendes leisteten. Es steht völlig außer Zweifel, dass auf der Ebene der zivilisatorischen Errungenschaften im dar al-islam mehrere Jahrhunderte vor der europäischen Renaissance ein bis dahin ungekanntes Niveau an Wissen, ein hoher Entwicklungsstand und herausragende Leistungen erreicht worden sind. Auch wurden, wie viele Gelehrte festgestellt haben, die Fundamente für große Teile des naturwissenschaftlichen und philosophischen Gedankengebäudes, das dann im Westen vollendet werden sollte, in muslimischen Ländern gelegt. Eine kurze Einführung wie die vorliegende vermag nicht annähernd die Leistungen der Muslime auf den Gebieten, auf denen sie sich ausgezeichnet haben, zu würdigen – in der Architektur und im Design, in der Schmiedekunst und der Keramik, in der Dichtung und Philosophie ebenso wie in den »schwierigeren« Naturwissenschaften einschließlich der Mathematik, Optik, Astronomie und Medizin. Auch wenn genug Raum zur Erörterung dieses Themas vorhanden wäre, bliebe allerdings die heikle Frage, inwieweit derartige kulturelle Errungenschaften in dem Sinne als »islamisch« betrachtet werden können, als sie direkt oder indirekt dem Islam als Religion zugeschrieben werden dürfen, und in welchem Umfang sie auf den Leistungen vorhergehender (vor allem griechischer und persischer) Zivilisationen aufbauten und sie fortsetzten. Der amerikanische Historiker Marshall Hodgson hat zwischen dem »Islamischen« (das die Religion an sich betrifft) und dem »Islamisierten« (also allem, was sich auf den weiten gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen bezieht, von dem die Religion ein Teil ist und über den sie, so könnte man sagen, Aufsicht führt) differenziert.8 Die Unterscheidung ist nützlich, [33]obwohl sie sich nicht allgemein durchgesetzt hat und wahrscheinlich genauso viele Fragen aufwirft, wie sie beantwortet.
Wesentlich wichtiger für das zentrale Thema dieses Buchs ist das Problem von Macht und Autorität. Wie die Christenheit, die historische Rivalin, strebt auch die islamische Welt nach Universalität. Es bedarf kaum einer Erklärung, dass dar al-islam es nicht fertiggebracht hat, sich die anfängliche Stoßkraft zu bewahren und sich den ganzen Erdkreis einzuverleiben, besonders wenn die Beschränkungen durch die vorneuzeitliche Technologie in Rechnung gestellt werden. Für eine Zeit, in der ein Mensch pro Tag selbst unter den günstigsten Bedingungen höchstens fünfzig bis fünfundsechzig Kilometer zurücklegen konnte, ist es mehr als erstaunlich, wie ungeheuer groß die Gebiete waren, die von den Arabern in der ersten Invasionswelle unterworfen wurden. Allerdings war gerade die Geschwindigkeit und Reichweite jener ersten Expansion die Ursache für politische Probleme, die auch nach dreizehn Jahrhunderten immer noch auf eine Lösung warten. Anfänglich wurde die Ausbreitung des Islam auf den Schwingen des Tribalismus getragen. Unterwerfung unter »Gott und seinen Propheten« bedeutete zuerst einmal, sich einer siegreichen Beduinenarmee zu ergeben. Von Anfang an stand die Botschaft der sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit aller Menschen (also auch der Frauen, was wesentlich problematischer war) vor Gott, wie sie von Muhammad in seinen Predigten verbreitet und im Koran festgeschrieben wurde, gegen die ganz reale Macht des Stammes und der Dynastie. Als dann innerhalb von einer Generation nach dem Tode des Propheten 632 die Bürgerkriege ausbrachen, als es zur Spaltung in Sunniten und Schiiten kam, als das arabische Reich zerfiel und eine politisch fragmentarisierte islamische Welt hinterließ, legten diese historischen Ereignisse Zeugnis für ein unvollendetes Projekt ab: die Errichtung einer Herrschaft Gottes auf Erden.
Da es weder eine Kirche noch eine Priesterschaft gab, lag die Vollendung des Projekts in den unberechenbaren Händen von [34]Laien, die sich für die Sache begeisterten. Die Führung wurde dabei von zwei Elementen übernommen, die nicht selten im Widerstreit standen. Auf der einen Seite ging sie auf die Stammesführer über, für die der Islam – manchmal auch in den heterodoxesten messianischen Formen – der Zement war, der die Stämme geschlossen zusammenhielt und die ideologische Stoßrichtung lieferte, um Energien, die sich zuvor in internen Kämpfen verbraucht hatten, nach außen auf die Eroberung umzulenken. Auf der anderen Seite wurden die ‘ulama zu Führern: jene Laien, die das Gesetz auslegten und respektierte Hüter der Überlieferung waren, die aber über keinerlei exekutive Macht verfügten und sich für die Durchsetzung von Gottes Geboten auf Außenseiter (nicht selten Sklaven aus fernen Ländern) verlassen mussten. Ein wackliger Kompromiss zwischen diesen beiden Handlungsträgern, den militärischen Herrschern und den ‘ulama, führte zu einem mehr schlecht als recht austarierten konstitutionellen Gleichgewicht an der Spitze dessen, was als die vielleicht erste »internationale Zivilisation« in der Geschichte bezeichnet worden ist. Wie Marshall Hodgson ebenso leidenschaftlich wie überzeugend dargelegt hat, trug das »Unternehmen Islam«9 viel dazu bei, die Bedürfnisse der Menschen in den urban geprägten Gebieten zwischen den Strömen Nil und Oxus (heute: Amudarja) zu befriedigen. Es begünstigte die Herausbildung eines gemeinsamen Handelsraumes, in dem Geschäfte auf der Grundlage gemeinsamer Werte wie Gerechtigkeit und angemessenem Umgang mit Gott abgewickelt werden konnten.
Dieser historischen Leistung – die ohne allzu große Verzerrung im sozialen Gedächtnis der Muslime als ein Goldenes Zeitalter wiederauftaucht – stand als Gegengewicht ein auffälliges Versagen auf der machtpolitischen Ebene gegenüber. Nach einer ersten Phase der Expansion implodierte das arabische Reich. Die zentrale Institution des Islam, das Kalifat, war zuerst [35]Gegenstand heftiger Kämpfe rivalisierender Gruppen, verlor aber nach und nach in dem Maße an Legitimität, wie der Kalif, der »Schatten Gottes auf Erden«, zum Gefangenen der Palastgarde wurde, die sich aus Soldaten der Stämme rekrutierte. Das soziale Gedächtnis konzentriert sich bei den Kalifen auf einige überlebensgroße Gestalten, auf die Vier Rechtgeleiteten Kalifen – Abu Bakr (Regierungszeit 632–634), ‘Omar (634–644), ‘Othman (644–656) und ‘Ali (656–661) – sowie den großen Harun al-Rashid (786–809), den idealen Monarchen, der durch die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht unsterblich geworden ist und zu einer