Der Islam. Malise Ruthven

Der Islam - Malise Ruthven


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angehalten, seine Gegenwart anzuerkennen und den Moralgesetzen sowie den Ge- und Verboten zu gehorchen, die ihnen, wie sie glauben, durch eine Folge von Gesandten und Propheten geoffenbart worden sind. Der Letzte in dieser Reihe ist Muhammad. Gott ist sowohl transzendent wie immanent, der Herr der Schöpfung und gleichzeitig Einer, der dem Einzelnen näher ist als seine »Drosselvene«.

      Gottes Sprachrohr

      »Muhammad ist das Sprachrohr des göttlichen Willens, der ihm von Gabriel mitgeteilt wird, und so steht er wie ein Beamter, der das Vertrauen des Königs genießt, auf der Grenzlinie zwischen dem königlichen Hof und den Untertanen. Untertan bleibt er immer. Manchmal empfängt er Botschaften, um sie an das Volk weiterzuleiten; manchmal wird er direkt als der Vertreter des Volkes angesprochen oder empfängt für das Volk bestimmte Gebote oder Ermahnungen; dann wieder werden besondere Ermahnungen und Anweisungen für sein eigenes Verhalten an ihn gerichtet; und zuweilen überschreitet er sozusagen die Grenze und überbringt dem Volk, indem er sich zu ihm umdreht, direkt die göttlichen Gebote und Ermahnungen.«

      W. M. Watt: Bell’s Introduction to the Quran. Edinburgh 1970. S. 67

      Dass im Koran Gott und nicht Muhammad spricht, wird schon durch das imperative »Sprich!« deutlich, das vielen Äußerungen vorangestellt und an Muhammad gerichtet ist. Gott spricht von [53]sich in der ersten Person Singular oder Plural, doch kommt es auch vor, dass der Prophet anscheinend vom Buch selbst angeredet wird und ihm als einer dritten Person von Gott berichtet wird. Neal Robinson, ein britischer Wissenschaftler, der den Stil des Koran detailliert untersucht hat, weist darauf hin, dass es sich bei dem plötzlichen Wechsel zwischen verschiedenen Pronomina um ein Wesensmerkmal der arabischen Rhetorik handelt und dass trotz der Verwendung verschiedener Pronomina »Gott der implizite Sprecher«14 des gesamten Koran-Textes sei:

      Mit der ersten Person Plural drückt Er seine Macht, Erhabenheit und seinen Großmut aus. Mit der Verwendung der ersten Person Singular wahrt Er seine Einheit, schlägt einen vertraulicheren Ton an oder gibt seinem Zorn Ausdruck. In der dritten Person Singular richtet Er eine universale Botschaft an die Menschheit, und zwar in einer Sprache, die die Menschen weiterverwenden können.

      Andere Gelehrte vertreten dagegen die Ansicht, dass manche Textpassagen eher als Aussprüche von Engeln oder des Engels Gabriel zu verstehen sind. Dies ist besonders in den Passagen am Anfang des Buches der Fall, von denen allerdings angenommen wird, dass sie in die Jahre in Medina, also die spätere medinensische Phase von Muhammads Prophetenamt, gehören. Diese Teile enthalten detaillierte Vorschriften über Ehe, Erbrecht und Strafen und stellen die bedeutsamste Quelle für das islamische Recht dar.

      Leser, die mit der Bibel oder den Hindu-Epen vertraut sind, werden im Koran eine zusammenhängende Erzählstruktur vermissen. Robinson betont, dass es zwar besonders enge Parallelen zu den Paulusbriefen der Bibel gibt, nicht jedoch zu den [54]Schilderungen aus dem Leben Jesu in den Evangelien. In diesem Zusammenhang zitiert er die Ansicht des indischen Theologen Shah Wali-Allah aus Delhi, der im 18. Jahrhundert meinte, dass man sich den Koran nicht als ein Buch vorstellen darf, das sich mit seinen Themen systematisch befasst, sondern eher als eine Sammlung von Sendschreiben, die ein König für seine Untertanen im Hinblick auf die Erfordernisse einer bestimmten Situation verfasst hat. Zwar gibt es ein paar vereinzelte Erzählungen – hervorzuheben wären hier besonders die Geschichten über die Propheten, einschließlich der sogenannten »Bestrafungsgeschichten«, in denen in allen Einzelheiten das düstere Schicksal derer geschildert wird, die Gottes Gesandte zurückweisen –, doch sind diese historischen Diskurse thematisch statt chronologisch verknüpft. Die biblischen Erzählungen richten sich an Christen und Juden und werden nicht als neue Offenbarungen präsentiert, sondern als Erinnerung und Beteuerung früherer Offenbarungen. Jedoch werden in diesen Geschichten wichtige Differenzen in der theologischen Doktrin deutlich. Am bedeutsamsten ist dabei der Unterschied zwischen den Lehren vom Sündenfall. Satan wird für seine Weigerung bestraft, vor Adam das Haupt zu beugen, und obwohl Adam wie in der biblischen Geschichte sündigt, indem er von der verbotenen Frucht isst, bereut er hier und steht bald wieder in Gottes Gunst: Als sein Stellvertreter oder Vizeregent (khalifa) ist er der erste einer Reihe von Propheten, die in der Person von Muhammad ihren höchsten Punkt erreicht. In diesen Erzählungen begegnet weder die Lehre von der Erbsünde noch die Doktrin vom Sühneopfer, der für andere erlittenen Buße. Wo die Erbsünde fehlt, braucht es auch keinen Erlöser: Der koranische Jesus ist ein von einer Jungfrau geborener Prophet, aber er ist nicht die fleischgewordene Gottheit in Menschengestalt. Und wo es weder die Inkarnation noch den Erlöser gibt, kann es auch keine Kirche als »Braut« oder »mystischen Körper« Gottes geben. Es braucht auch keinen Ewigen Bund, um die Erlösung sicherzustellen. [55]Alles, was von den Menschen verlangt wird, ist, dass sie Gehorsam gegenüber Gottes Geboten üben und sich ihres Verstandes bedienen, um Wahres von Falschem zu unterscheiden, wobei sie den Koran als ihr Kriterium (furgan) nehmen. Gott offenbart sich den Menschen nicht in einer Person, sondern in Worten, aus denen ein Text wird, wobei in den Augen der meisten Muslime die einzelnen Wörter des Koran für sich genommen schon göttlicher Natur sind.

      Die koranischen Suren sind in Verse unterteilt, die im Arabischen als ayas bekannt sind – das Wort bedeutet ›Zeichen‹ und wird im Koran häufig dazu verwendet, die Existenz Gottes aufzuzeigen. Diese ›Zeichen‹ dienen nicht nur dazu, die Aussprüche Gottes zu kennzeichnen; sie verweisen außerdem auf Gottesbeweise in der Natur. Dadurch ist die Theologie des Koran von einer Argumentation durchdrungen, die in der christlichen Theologie als »teleologischer Gottesbeweis« bekannt geworden ist. Das Lesen wird so selbst schon zu einem Akt der Andacht.

      Obgleich Muhammad namentlich an mindestens vier Stellen genannt wird, liefert, von gelegentlichen Andeutungen abgesehen, der Koran für eine Biographie Muhammads oder eine Darstellung seiner Jahre im Amt des Propheten nur sehr wenig Material. Auf das Neue Testament bezogen, wäre es so, als seien nur die Paulusbriefe erhalten, nicht aber auch nur eines der vier Evangelien oder die Apostelgeschichte. Für den Koran sind die Ereignisse in Muhammads Leben genauso wenig von Interesse, wie es die Lebensgeschichte Jesu für Paulus war.

      Zeichen und Verse

      »Jeder Koranvers (ayah) ist zugleich ein Zeichen – im symbolischen oder semiotischen Sinn –, das auf eine andere Wirklichkeitsebene verweist, die wiederum die Botschaft der Offenbarung bestätigt. Der Gläubige, der danach strebt, ein Gefühl für das Heilige zu entwickeln, muss also zwei verschiedene Ebenen von ›Sprache‹ (langue) gleichzeitig lernen: den arabischen Text des Koran selbst und die ›Sprache‹ der Natur, die auch eine Manifestation der Sprache Gottes ist. Gott hat die Welt als ein Buch geschaffen; seine Offenbarungen sind auf die Erde niedergefahren und zu einem Buch kompiliert worden; folglich muss der Mensch lernen, die Welt als Buch zu ›lesen‹.«

       Vincent J. Cornell. In: The Oxford Encyclopedia of the Modern Islamic World. Oxford 1995. Bd. 3. S. 388.

      Der Stil des Koran ist elliptisch; der Text steckt voller Andeutungen und Anspielungen. Die Schrift richtet sich an Menschen, die mit einem Großteil des darin enthaltenen Stoffes bereits vertraut sind, und ist weit davon entfernt, aus sich selbst heraus verständlich zu sein. Man kann den Koran nur verstehen, indem man Material heranzieht, das außerhalb des Textes liegt. Eben diese Schwierigkeiten des Textes als historischer Quelle sind ein überzeugender Prima-facie-Beweis für seine Authentizität, [56]denn sicher würde doch ein auf irgendeine Weise redigiertes Werk mehr Merkmale erzählerischer Geschlossenheit aufweisen. Man gewinnt den Eindruck, dass Muhammads Worte (also jene, die er im prophetischen Sprachmodus von sich gegeben hat, wenn, wie vermutet wurde, der Engel oder Gott in ihn gefahren war) von Anfang an als heilige Artefakte angesehen wurden und wie Heiligenreliquien aufgezeichnet und aufbewahrt wurden. Anders als die Bücher des Alten und Neuen Testaments stellt sich der Koran selbst als unbearbeitetes »Rohmaterial« dar. Der narrative Kontext seiner Entstehung – der Lebensweg von Muhammad – war etwas, das erst rekonstruiert werden musste, wollte man seiner Bedeutungsvielfalt gerecht werden. In diesem Fall richtet sich sogar für den Skeptiker die Chronologie nach der Theologie. Genau wie »Gottes Rede«, wie sie der Engel vorträgt, in ontologischer Hinsicht einen höheren Stellenwert besitzt als die Aussprüche des Propheten, wie sie in den Hadith-Schriften aufgezeichnet sind, erscheint auch »das Leben des [57]Propheten« erst nach der Schrift, dem Zeugnis der göttlichen


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