Der Islam. Malise Ruthven
Gottheit. Anderslautende Andeutungen würden eine Bresche in die Trennmauer zwischen Gott und der Menschheit schlagen und die Grenze zwischen dem Schöpfer und seiner Schöpfung verletzen. In theologischer Hinsicht ist die Verteidigung dieser Grenze der zentrale Glaubensartikel des Islam. »Es gibt keine Gottheit außer Gott. Muhammad ist der Gesandte Gottes.«
Das soll nicht bedeuten, dass Muhammad als in irgendeinem Sinne gewöhnlich angesehen würde oder dass ihm bei der Herausbildung des Islam eine weniger ausschlaggebende Rolle zukäme als Christus bei der Entstehung des Christentums. Eher ist das Gegenteil richtig. Weil der islamische Kanon so umfangreich ist, gibt es viel mehr Taten, Sprüche und Gedanken, die Muhammad zugeschrieben werden, als das für Jesus der Fall ist. Der Unterschied liegt nicht in seiner historischen Bedeutung oder [47]der Faszination begründet, die er auf das Denken seiner Anhänger ausübte, sondern vielmehr in dem anderen Status, der seinen Äußerungen zuerkannt wurde. Muslime aller Glaubensrichtungen trennen zwischen den Aussprüchen, die Muhammad in seiner Funktion als Prophet oder Verkünder der göttlichen Offenbarung zugeschrieben werden – diese Äußerungen sind im Koran (Quran; in seiner ursprünglichen Bedeutung ›der Diskurs‹ oder ›die Rezitation‹) gesammelt –, und jenen mit niedrigerem Status, die von seinen Zeitgenossen in einem Korpus nachgeordneter Schriften, den sogenannten Hadithen (›Überlieferungen‹), niedergelegt sind. Obwohl es eine gewisse Kontroverse um die beiden Textkategorien gibt, sind sich im Allgemeinen muslimische wie nichtmuslimische Kommentatoren einig, was den beschriebenen Unterschied im Status betrifft.
Der Koran
Für die überwältigende Mehrheit der Muslime ist der Koran die Rede Gottes, die so diktiert und vom Menschen nicht redigiert worden ist. Im Gefolge der katholisch anmutenden Mu‘tazili-Kontroverse (s. S. 94 f.) wurde der Koran als »nicht geschaffen« aufgefasst und war damit von der gleichen ewigen Dauer und Zeitlosigkeit wie Gott. Wie Wilfred Cantwell-Smith bemerkt, nimmt er für den gläubigen Muslim denselben Platz ein wie Christus für die Christen. Ein Muslim oder eine Muslimin soll den Text nur zur Hand nehmen, wenn er oder sie sich im Zustand ritueller Reinheit befindet. Die exakte Aussprache ist genauso wichtig wie die Bedeutungen; anders als bei den meisten arabischen Texten liefert die koranische Schrift das Zeichen für die Vokalkürze mit, um ein Höchstmaß an Genauigkeit sicherzustellen. Lesungen wird die Wendung vorausgeschickt: »Ich nehme Zuflucht bei Gott vor Satan, dem Verfluchten«, und sie schließen mit dem Satz: »Gott der Allmächtige hat wahr [48]gesprochen!« Die Eröffnungs- und Schlussformel errichten »mit Worten eine Art von ritueller Einfriedung um den rezitierten Text und schützen ihn so vor bösen Eingebungen oder Falschheit«.13 Bestimmten Versen werden heilende Kräfte zugeschrieben: Beispielsweise soll die erste Sure (Kapitel), die auch als »Die Eröffnende« bekannt ist, gegen den Stich eines Skorpions helfen; die letzten beiden, die Suren 113 und 114, taugen angeblich zur Heilung diverser Krankheiten.
Das Problem der Textzusammenstellung ist zum Gegenstand einer ausgedehnten Forschungskontroverse geworden. Mit wenigen Ausnahmen akzeptieren die meisten nichtmuslimischen Gelehrten, dass das geschriebene Buch Aufzeichnungen göttlicher Äußerungen enthält, die Muhammad im Laufe seines Dienstes im Amt des Propheten gemacht hat (Beginn um 610, Ende mit seinem Tod im Jahre 632). Verschiedenen Überlieferungen zufolge fiel Muhammad in einen tranceähnlichen Zustand, wenn ihn die Offenbarungen erreichten. Diese Überlieferung stimmt mit Berichten überein, die den Empfang von Offenbarungen bei Propheten in jüngerer Zeit schildern, so zum Beispiel bei Joseph Smith Jr., dem Begründer des Mormonentums, dessen Äußerungen in der als Lehre und Bündnisse bekannt gewordenen Schrift enthalten sind. Muslimische Geschichtsschreiber stimmen generell darin überein, dass manche oder auch alle dieser Äußerungen, die sorgsam von Muhammads »normaler« Rede, wie sie im hadith-Schrifttum festgehalten ist, unterschieden werden, zu seinen Lebzeiten niedergeschrieben worden sind. Jedem der vier »Rechtgeleiteten« Kalifen ist das Verdienst zuerkannt worden, die Zusammenstellung des Textes entweder initiiert oder befördert zu haben. Allerdings ist zwischen Historikern und Traditionalisten unumstritten, dass der offizielle Kodex unter dem dritten Kalifen ‘Othman [49](Regierungszeit 644–656) festgelegt wurde. Abweichende Lesarten wurden schließlich vernichtet, konnten aber nicht vollständig beseitigt werden: Die Aufgabe wurde durch die Beschaffenheit der frühesten arabischen Schrift erschwert, die keine diakritischen Punkte kannte, mit denen Konsonanten voneinander unterschieden werden konnten. In dem Maße, wie sich die Schrift weiterentwickelte, entstand mehr und mehr ein Standardtext, bei dem die variierenden Lesarten auf sieben reduziert worden sind, von denen jede als gleichermaßen gültig angesehen wird.
Die Öffnende
»Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen!
Lob sei Allah, dem Weltenherrn,
Dem Erbarmer, dem Barmherzigen,
Dem König am Tag des Gerichts!
Dir dienen wir und zu Dir rufen um Hilfe wir;
Leite uns den rechten Pfad,
Den Pfad derer, denen Du gnädig bist,
Nicht derer, denen Du zürnst, und nicht der Irrenden.«
Sure 1,1–7
Zusammenfassung des Koran
»[Die Fatiha] enthält in kondensierter Form alle grundlegenden Prinzipien, wie sie im Koran niedergelegt worden sind: Das Prinzip von der Einheit und Einzigartigkeit Gottes; das Prinzip, dass er der Schöpfer und Erhalter des Universums ist, der Quell aller lebensspendenden Gnade, der Eine, demgegenüber der Mensch zuletzt verantwortlich ist, die einzige Macht, die wahrhaft führen und helfen kann, die Aufforderung zum rechtschaffenen Handeln im Leben dieser Welt; […] das Prinzip des Lebens nach dem Tode und der organischen Folgen aus dem Handeln und Verhalten des Menschen; […] das Prinzip der Anleitung durch die Gesandten Gottes […] sowie, daraus folgend, die Notwendigkeit, sein Selbst freiwillig dem Willen des Obersten Wesens hinzugeben und auf diese Weise nur Ihn allein anzubeten.«
Muhammad Asad: The Message of the Quran. Gibraltar 1980. S. 1.
Eine Seite aus dem Koran: ein Beispiel für die Naskhi-Schrift.
Zu lesen ist die letzte, die 114. Sure (Surat al-Nas – Die Menschen): »Sprich: Ich nehme meine Zuflucht zum Herrn der Menschen, Dem König der Menschen, Dem Gott der Menschen, Vor dem Übel des Einflüsterers, des Entweichers, Der da einflüstert in die Brüste der Menschen – Vor den Dschinn und den Menschen.«
(© World of Islam Festival Trust)
Das Buch ist in 114 Suren (wörtl. ›Reihen‹) oder Kapitel unterteilt, die mehr oder weniger ihrer Länge nach angeordnet sind, so dass die kürzeste Sure am Ende und die längste kurz hinter dem Anfang steht. Die wichtigste Ausnahme von diesem Schema bildet die Fatiha oder »Eröffnende«, eine Anrufung Gottes in sieben Versen, die von Muslimen bei jedem der fünf Gebete, zu denen sie alle vierundzwanzig Stunden verpflichtet sind, wiederholt werden. Die Fatiha wird gelegentlich als die »Mutter des Buches« bezeichnet und ist nach allgemeiner Auffassung die Quintessenz des Islam. Oft wird sie als Gebet verwendet.
[50]In den auf sie folgenden Suren wird dieselbe grundlegende Botschaft wiederholt, genauer herausgearbeitet, erweitert und mit Geschichten illustriert, wobei auf den jüdisch-christlichen Überlieferungsschatz, vermehrt um einige deutlich arabische Elemente, zurückgegriffen wird. Es begegnen also Adam und Noah, Abraham und Joseph, Moses und Jesus neben den der Bibel unbekannten arabischen Propheten und Weisen Hud, Salih und Luqman. Die Theologie des Textes vertritt einen absoluten und kompromisslosen Monotheismus. Wie im Alten Testament sind die Propheten gesandt, die Menschen vor dem Abweichen vom rechten Pfade und der Anbetung falscher Götter zu warnen. Als besonders abscheulich wird dabei die Sünde des shirk, die »Beigesellungssünde«, angesehen, bei der die Erhabenheit Gottes dadurch kompromittiert ist, dass er durch die Verbindung mit geringeren Göttern sozusagen kontaminiert wird. [52]Unaufhörlich wird in den Suren der Wille, die Majestät und schöpferische Macht Gottes betont und gepriesen. Allah – das arabische Wort für Gott – enthält bereits den bestimmten