Der Islam. Malise Ruthven
oder eine Kombination aus beidem, und falls ja, mit welchen Anteilen. Der Begriff ist genauso zweideutig wie das Amt, das er bezeichnet. Im Koran wird er für Adam verwendet, den ersten Menschen und Gottes stellvertretenden Herrscher auf Erden, und auch für David, der Prophet und König zugleich ist. Das Amt als solches ist nach dem Tod des Propheten spontan entstanden, nachdem dieser weder einen eindeutigen Nachfolger bestimmt noch Regeln für die Nachfolge hinterlassen hatte. Den ersten vier Kalifen wurde das Amt gemäß dem Stammesbrauch durch Akklamation übertragen. Einige Juristen vertraten die Ansicht, dass nach jenen vier das wahre Kalifat erloschen und die folgenden Kalifen lediglich Monarchen oder Könige gewesen seien. Im orthodoxen Schrifttum bedeutet der Titel Kalif im Allgemeinen so viel wie Stellvertreter oder Nachfolger des Propheten Muhammad (so in der Formel khalifat rasul Allah – »Stellvertreter des Gesandten Gottes«). Die ersten Omayyaden-Kalifen und einige der ‘Abbasiden, die sie ablösten, verwendeten den Titel khalifat Allah – »Stellvertreter« oder »Vizeregent Gottes« (wie übrigens auch einige spätere muslimische Alleinherrscher, so zum Beispiel der Sultan von Jogjakarta auf Java). Klar scheint dabei zu sein, [36]dass bis zur Mitte des neunten Jahrhunderts der Kalif zusätzlich zu seinen politischen auch geistliche Funktionen erfüllte, indem er die Durchsetzung religiöser Konformität erzwang. Nach einer populistischen Reaktion gegen Bemühungen seitens des Kalifen al-Mamun, Regierungsbeamte durch mihna (die »Inquisition«) zur Anerkennung und Befolgung von Lehrsätzen zu zwingen, die zum Teil als rationalistisch beschrieben werden, wurde der Versuch jedoch aufgegeben, eine zentrale Kontrollinstanz zu schaffen. Hüter des wahren Glaubens wurden die ‘ulama.
Das Debakel des Kalifats hatte weitreichende Folgen, die deutlich werden, wenn die weitere Entwicklung islamischer Herrschaft mit der des Christentums im Westen verglichen wird. Dort wahrte die Kirche unter der entschlossenen Führung des Papsttums ihr Monopol in Fragen der christlichen Lehre und derjenigen Rituale, die Erlösung zusicherten. Obwohl das katholische Monopol letztlich zerschlagen wurde, hatte die langewährende Hegemonie der Kirche soziale Wandlungsprozesse in Gang gebracht, die über die verwandtschaftlichen Bande hinausführten. Im Okzident entstand der Staat, als die Kirche – ideale Körperschaft und Verkörperung der Person Christi – weltliche Nachkommen in Form von Städten und anderen öffentlichen Gebilden gebar. Im Gegensatz dazu hat der islamische Staat das prägende Schema des Stammesverbandes nie völlig überwunden. Die Implosion des arabischen Reiches verschlimmerte die Folgen noch, die das Versagen des Kalifats bei der Durchsetzung religiöser Konformität mit sich brachte. Von den Schiiten einmal abgesehen, die an der Idee einer transzendenten geistlichen Autorität festhielten, gab es im Islam keine zentrale Institution, der die religiöse Oberaufsicht übertragen worden wäre. Dieses Manko behinderte auch die Herausbildung eines Gegengewichts in Form des säkularen Staates. Das Gesetz entwickelte sich paradoxerweise unabhängig von den Institutionen weiter, denen seine Durchsetzung anvertraut worden [37]war, und so wurde die militärische Stammesherrschaft zur Regel. Wie Patricia Crone und Martin Hinds ausgeführt haben, »kann ein Herrscher, der keinerlei Mitspracherecht bei der Formulierung des Gesetzes hat, nach dem seine Untertanen leben wollen, diese Untertanen ausschließlich im rein militärischen Sinne beherrschen«.10 Um seinen Fortbestand zu sichern, musste ein solches Staatswesen von Außenseitern getragen werden, und der Gehorsam wurde seinen Herrschern als ebensolchen Außenseitern entgegengebracht, nicht als Repräsentanten der Gemeinschaft. Obwohl in dieser Beziehung ein gewisses Element des Konsenses vorhanden war, weisen Crone und Hinds darauf hin, dass dem Staat ein »institutioneller Apparat dahinter vollkommen fehlte […]. Dadurch wurde der Staat zu etwas, das sich an der Spitze der Gesellschaft befand, ohne in ihr verwurzelt zu sein. Durch die minimale Interaktion zwischen beiden war auch die politische Entwicklung entsprechend minimal: Dynastien kamen und gingen, doch was sich veränderte, war nur der Name des Herrscherhauses.«11 Diese Formulierung mag etwas überzogen wirken, was das Maß an politischer Unbeweglichkeit in den muslimischen Staaten betrifft, enthält aber eine wichtige Feststellung über die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft in den muslimischen Ländern vor Beginn der Moderne, die dort grob gesagt mit dem 19. Jahrhundert einsetzt. Im vorigen Jahrhundert wurde den muslimischen Herrschern dann bewusst, dass sie nicht umhinkamen, gesellschaftliche Neuerungen einzuführen, wollten sie die militärische und ökonomische Herausforderung durch den Westen annehmen. Dennoch hat trotz des Niedergangs der Macht und religiösen Autorität des Kalifats die Idee als solche in Teilen der sunnitischen Mehrheit ihre Anziehungskraft bewahrt.
[38]Ein religiöses Erwachen?
Mögen auch die Fachleute noch so uneins sein, was die langfristigen politischen Implikationen des Wiederauflebens islamischer Strenggläubigkeit betrifft, so kann doch deren wachsende Bedeutung für das tägliche Leben nicht bezweifelt werden: Die Moscheen sind besser besucht, und die Fastengebote während des Ramadan werden von immer mehr Menschen befolgt. Hinzukommt eine Zunahme religiöser Publikationen in den Print- wie den audiovisuellen Medien und eine verstärkte Betonung »islamischer Kleidung«, vor allem für Frauen, in vielen Teilen der Welt. Zwei der am häufigsten angeführten Erklärungsfaktoren für dieses Phänomen sind zum einen der beispiellose Grad an Urbanisierung und zum anderen das Versagen des postkolonialen Staates, der die eigenen Versprechungen nicht eingehalten hat. Landflucht und Zuzug in die Städte bedeutet sowohl den Verlust des Lebens in der dörflichen Gemeinschaft, in der das Netzwerk der Großfamilie tradierte soziale Werte bewahrte und stärkte, als auch die Konfrontation mit dem modernen städtischen Leben und seinen verwestlichten Sitten. Auf politischer Ebene lässt der Zusammenbruch des Kommunismus und das Scheitern des Marxismus, der das Stigma des »Atheismus« nie loswerden konnte, viele im Islam eine attraktive ideologische Waffe im Kampf gegen postkoloniale Regime sehen, die sie als korrupt, autoritär und manchmal tyrannisch empfinden. In Ländern ohne funktionierende demokratische Institutionen kann die Moschee und das sie umgebende Netzwerk diverser Aktivitäten eine gewisse Immunität genießen. Sollten die Regierungen es dennoch wagen, die Moscheen solcher »Rebellen« zu schließen, bestärken sie nur ihre Gegner darin, sie als Ungläubige zu brandmarken.
Die explosionsartige Ausbreitung der Informationstechnologie und besonders die Revolution in der audiovisuellen Kommunikation untergräbt die Autorität der älteren gebildeten Eliten, die zur Befürwortung weltlicher Werte und Lebensstile [39]tendierten, und setzt gleichzeitig mehr und mehr Menschen den Bildern der westlichen Unterhaltungs- und Werbeindustrien aus – Bildern, die Grenzen verletzen und nicht selten obszön sind. In vielen Ländern hat ein exponentieller Wachstumssprung in der Urbanisierungsrate das kulturelle und demographische Gleichgewicht zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung nachhaltig verändert und in den Städten ein riesiges neues Proletariat aus Landflüchtigen entstehen lassen, das – kaum urbanisiert – dann empfänglich für die Botschaften populistischer Prediger und Demagogen ist. In Ländern wie Ägypten ist es den islamistischen politischen Bewegungen mit ihren Wohlfahrtsorganisationen gelungen, die Lücken zu füllen, die sich durch das Versagen der Regierung bei der Bewältigung von Armut und Wohnungsnot sowie anderen durch übereilte Urbanisierung entstandenen sozialen Problemen aufgetan haben. In jüngerer Zeit sind diese demographischen Entwicklungen durch eine neue Generation von Städtern überlagert, die mit den sozialen Medien geschickt umzugehen weiß. Das führt zur Entstehung von etwas, das manchmal als »Facebook-Revolution« des Nahen Ostens bezeichnet wird. Das Verhältnis zwischen zwei gesellschaftlichen Kräften – der ländlichen oder erst seit kurzem urbanisierten Bevölkerung, die meist an den traditionellen Normen des Islam festhält, auf der einen Seite und der Generation der Absolventen höherer Schulen und Universitäten, die sich mehr an säkularen Werten orientieren, auf der anderen Seite – scheint sich derzeit zugunsten der letzteren zu verschieben. Unlängst wies eine Studie auf den markanten Schwund an Religiosität in der arabischen Welt hin. Der Anteil von Menschen, die von sich behaupten, nicht religiös zu sein, stieg von 11 Prozent in den Jahren 2012–14 auf 18 Prozent im Jahr 2019. Diese Entwicklung ist vermutlich das genaue Gegenteil zur wachsenden Religiosität vieler Muslime in der westlichen Diaspora, wo Überzeugungen, die mit dem Salafismus in Verbindung stehen (wie etwa die Verschleierung und das Tragen von Bärten), als [40]Identitätsmerkmale innerhalb der zweiten und dritten Generation muslimischer Einwanderer ständig an Bedeutung zunehmen. Es sind aber auch anti-islamistische Tendenzen erkennbar, und zwar vor allem dort, wo die islamistischen Strömungen mit der Ausübung von Gewalt und Macht einhergingen. Der bereits genannten Studie zufolge ist das