Das Zeichen der Erzkönigin. Serena J. Harper

Das Zeichen der Erzkönigin - Serena J. Harper


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gewöhnlich schluckte der mit Teppichen verkleidete Gang vor ihrem Schlafzimmer fast jedes Geräusch.

      Wie spät war es?

      Lyraine setzte sich auf, die Decke wegschiebend, die ihr Vater erst vor wenigen Stunden festgesteckt hatte, und schwang ihre Füße aus dem Bett. Mittlerweile hatten sich gedämpfte Stimmen zu den Schritten gesellt. Was sie sagten, war unmöglich zu erahnen – doch es klang nach gehetzt gerufenen Befehlen. Einen Moment lang zögerte sie noch, dann griff sie nach ihrem goldenen Stoffdrachen, setzte die Füße auf den Boden und schlich auf Zehenspitzen zur Tür.

      Die Vorsicht war angemessen: Sowohl ihr Papa als auch die Krieger, welche die Privatgemächer von Lyraines Eltern und die ihren beschützten, hatten Ohren schärfer als die der Wölfe, die sich manchmal aus den Wäldern her verirrten.

      Lyraine erreichte die Tür, öffnete sie behutsam einen Spalt breit und sah … gar nichts. Ein wenig ernüchtert blieb Lyraine im Türrahmen stehen. Anscheinend waren die Krieger nur vorbeigelaufen, aus welchem Grund auch immer, und waren nun im Erdgeschoss des Anwesens. Lyraine öffnete die Tür weiter, um das Licht der Kerzenhalter, das den Gang erhellte, in ihr Zimmer fallen und damit die kleine Uhr aus ziseliertem Silber auf ihrer Kommode beleuchten zu lassen. Es war schon die dritte Stunde der Nacht – und trotzdem waren alle auf den Beinen? Vielleicht sollte sie ins Bett zurückkehren, nicht wieder nachts herumstreifen und erneuten Ärger mit Gorwyn riskieren. Der Truchsess war ein freundlicher Mann mit einer unerschöpflichen Geduld, aber von mitternächtlichen Spaziergängen, die mit gestohlenen Keksen in seinem Arbeitszimmer endeten, hielt er überhaupt nichts, wie er ihr bereits zweimal im vergangenen Monat eingebläut hatte.

      Lyraine vermutete, dass er sich vor allem vor Marmeladenflecken auf den kostbaren beschriebenen Seiten fürchtete.

      Einen Moment lang verharrte sie, wo sie war.

      »Nur einmal kurz schauen, ja, Zisch?«, vergewisserte sie sich mit einem Blick in die großen runden Glasaugen des Kuscheldrachen, schob ihn tiefer in ihre Armbeuge und zog die Tür hinter sich zu. Das war immer wichtig, hatte sie festgestellt – so würde den Männern, die vielleicht den Gang kontrollierten, nicht auffallen, dass die Tochter der Königin aus ihrem Bett und dem Zimmer entwischt war.

      Jetzt hielt sie nichts mehr. Mit wenigen Schritten erreichte sie die Biegung des Korridors, lautlos auf dem dicken Teppich, und dann endlich die Treppe. Ihre Finger fanden die Marmorstreben des Geländers, das ihr half, das Gleichgewicht zu behalten, als sie in die Hocke ging, um geduckt die Stufen hinabzuschleichen. Zwei, drei, vier Stufen, dann bog sich die Treppe weit genug, sodass sie in die Eingangshalle blicken konnte.

      Drei Erkenntnisse fanden ihren Weg in Lyraines Geist.

      Erstens: Weder der Fackelschein noch die Schritte auf den Gängen hatten sie geweckt, sondern der Kampfeslärm von drei Dutzend Kriegern, die, ihre mahrischen Schwerter gezogen, mit Flammen und Frost gegeneinander kämpften.

      Zweitens: Im Kampfgetümmel musste ein fehlgeleiteter Einschlag der Mahr eines Albenkriegers den einst so beeindruckenden Kronleuchter, der die Eingangshalle beim Zubettgehen noch erleuchtet hatte, von der Decke gerissen haben. Er war zerborsten, als größte Lichtquelle völlig untauglich geworden, und nur die Fackeln an den Wänden erhellten das Foyer.

      Und die dritte Erkenntnis kam, seltsam verspätet nach den anderen beiden: Einige – mehrere – viele der Albenkrieger dort unten waren die Männer ihrer Mutter. Wieso hatte sie diese nicht gleich erkannt?

      Es waren zweifelsohne Alaric, ihr Onkel, der Schild ihrer Mutter, und die Herolde, die er befehligte. Sie waren alle da. Kay Hollow. Bron Nychester, der sich die Ärmel hochgekrempelt hatte. Sie konnte die violette Rún auf seinem Unterarm bis zu ihrem Versteck auf der Treppe leuchten sehen. Rogan Duskwood. Sein Sohn Brandon, den man zu Boden geworfen hatte, der sich aber soeben wieder aufrappelte. Wo war ihr zweiter Onkel, Avallan?

      Lyraine fühlte sich so versteinert, als wäre sie Teil der Treppe geworden.

      Ein Angriff, verstand sie. Ein Angriff auf Amber Hall.

      Seit Wochen hatten ihre Eltern davon gesprochen, von der Möglichkeit, der Vorahnung, der Befürchtung. Und jetzt war sie Wirklichkeit geworden. Die Katastrophe, auf die Amber Hall und all seine Bewohner sich vorbereitet hatten – alle, außer Lyraine, so kam es ihr vor – war tatsächlich da, in einer Nacht, einer völlig gewöhnlichen Nacht. Sie hatte den Tag verbracht wie jeden anderen. Nichts, aber auch gar nichts hatte sie anders gemacht. Morgens hatte sie Lesen und Schreiben mit Meister Lewyn geübt, mittags fast zwei Stunden lang Mathematik, nachmittags hatte sie zu Brandon in die Ställe zu ihrem Pony gedurft. Sie hatte sich vor dem Abendessen die Hände gewaschen und die Haare gebürstet. Durch dieses Haar hatte ihr Vater ihr gestrichen, als er sie abends zugedeckt hatte.

      Der Tag war so gewesen, wie ein Tag sein sollte – und jetzt war das große Tor von Amber Hall aufgebrochen, die Tür von einem Angriff mit der Mahr aus den Angeln gerissen. Erste Feuerzungen leckten über das tiefblaue Wappen ihrer Familie und hatten bereits den silbernen, fallenden Mond erreicht.

      Eine Stimme riss Lyraine aus ihren Gedanken und dem Anblick, der sie gefangen hielt – es war ihr Vater, umgeben von der kobaltblauen Aura seiner Rún, der mit gezogenem Schwert versuchte, weitere durch die Türöffnung eindringende Krieger zu stoppen.

      Lyraine löste sich aus ihrer Starre. Sie konnte hier nicht bleiben. Obwohl die Rauchentwicklung noch nicht stark war, juckte der Qualm jetzt schon in ihrem Hals. Kurzentschlossen richtete sie sich auf, Zisch fester an sich pressend. In diesem Getümmel durfte sie ihn auf gar keinen Fall verlieren. Schritt für Schritt wagte das Mädchen sich weiter nach unten. Mit jedem wurde ihr mehr bewusst, wieso sie die Mitglieder des Hofes ihrer Mutter nicht sofort erkannt hatte. Sie sahen nicht mehr aus wie sie selbst. Natürlich, ihre Gestalt hatte sich nicht wirklich verändert. Sie hatten immer noch die nach vorn gebogenen und gedrehten Hörner und die spitz zulaufenden Ohren, die Albenmänner eben hatten. Letzteres hatten auch ihre Mutter und sie und alle Albendamen. Und sie hatte die Männer auch schon mit Waffen in den Händen gesehen; nicht selten trainierten sie damit vor dem Haus.

      Aber die Art, mit der die Aura der Rúnir um sie alle leuchtete, war ein wildes Funkeln, kein beständiger schwacher Glanz wie sonst. Sie waren völlig in diesen Kampf verwickelt, erhitzt, brennend durch den Einsatz der Mahr.

      Selbst ihr Vater sah anders aus, stellte Lyraine fest. Er war immer noch ein stattlicher Nachtalbenlord, mit Haar, so dunkel wie ihres, obwohl seines am Scheitel, den Schläfen und den Brauen schon eine Spur von Silber zeigte. Aber jetzt, wo er die Klinge gegen einen der Eindringlinge erhob, konnte sie verstehen, wieso seine kobaltblaue Rún die Form eines Schwertes hatte. Lyraine stieg über eine zertrümmerte Vase und bereute, ihre Pantoffeln nicht angezogen zu haben. Der Boden war spiegelglatt und kalt.

      Es war ihr Glück, so viel kleiner zu sein als die Männer, als sie sich zwischen den Kämpfenden so gut wie unbemerkt vorbeischlängelte. Doch dieses Glück hielt nicht an: Ihr Vater war nach wie vor in einen Zweikampf verstrickt, und zwischen ihm und ihr waren noch weitere Duelle, die sowohl mit der Albenmagie als auch mit Schwertern ausgefochten wurden. Jedes Nähern bedeutete ein enormes Risiko, das wusste Lyraine.

      Unsicher trat Lyraine von einem Fuß auf den anderen. Sollte sie es wagen und nach ihrem Vater rufen? Was, wenn sie ihn dadurch ablenkte und seinem Gegner – einem Nachtalben mit tiefschwarzem Haar – dadurch einen Vorteil verschaffte? Aber einfach hier zu stehen war genauso wenig klug!

      Noch bevor Lyraine eine Entscheidung fällen konnte, wurde sie ihr abgenommen. Ein Tritt in ihre Kniekehlen riss ihr die Füße weg und ließ sie der Länge nach hinfallen. Sie schlug auf dem Marmorboden auf, konnte sich nur auf einer Seite abfangen, weil sie mit dem rechten Arm immer noch Zisch festhielt. Instinktiv zog sie das Stofftier noch fester an sich. Sie hatte sich ganz eindeutig die Knie aufgeschlagen, aber sie spürte den Schmerz kaum. Lyraine wollte sich aufrappeln, doch ein fester Griff um ihren Oberarm kam ihr zuvor.

      Der Mann, der sie angegriffen hatte, packte sie und zerrte sie auf die Füße, sie gleichzeitig zu sich herumdrehend.

      »Wer hat sich denn hierher verlaufen?«, blaffte der Albenkrieger sie an. Einen Moment lang fühlte Lyraine sich wie


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