Das Zeichen der Erzkönigin. Serena J. Harper
er mit der freien Hand nach dem bestickten Stoff ihres Nachthemdes. »Du bist das Balg der Königin.«
Lyraine wusste nicht, was in seinen Augen aufleuchtete – was genau der Ausdruck war. Aber irgendetwas an dieser Erkenntnis schien ihn zu erfreuen. Lyraine holte tief Luft. »Ich bin Lady Lyraine aus dem Haus Moonfall, die Tochter der Königin, und Ihr, Sir, werdet mich loslassen!« Sie gab ihrer Stimme den gebieterischsten Tonfall, den sie erreichen konnte, und erreichte damit – gar nichts.
Der Alb griff nach ihrem Handgelenk, schob ihren Ärmel hinauf und entblößte die Rún.
»Rosé«, stellte er mit unverhohlener Enttäuschung fest. »Ein adliges Gör und dann eine roséfarbene Rún. Das wird deiner Mutter nicht viel Freude bereitet haben.« Er spuckte aus. Lyraine entriss ihm die Hand, doch noch bevor sie einen Schritt machen konnte, hatte sein Griff sich wieder eisern um ihren Oberarm geschlossen.
»Mir soll es gleich sein«, grunzte er. »Halt still!«
Mit wachsender Panik erkannte Lyraine, dass er begann, ein Seil von seinem Gürtel zu lösen. »Nein!« Das Wort hatte als halber Schrei schneller ihre Lippen verlassen, als sie blinzeln konnte. »Loslassen!« Einen Moment lang glaubte Lyraine, er würde es tatsächlich tun. Doch als der Alb die Hand hob, wusste sie, dass seine Absicht eine ganz andere war.
Sie war nicht schnell genug, um sich zu ducken. Der Handrücken traf sie im Gesicht, warf sie beinahe zu Boden. Ein hohes Sirren jagte durch ihre Ohren.
Noch nie – nie! – hatte jemand die Hand gegen sie erhoben.
»Willst du jetzt wohl endlich stillhalten?«, fuhr der Krieger sie an. Ein weiteres Mal erhob er drohend die Hand, dieses Mal nur den Zeigefinger ausgestreckt. Lyraine setzte zu einer Antwort an, zu der sie nie kommen sollte.
Eine Klinge glitt durch Fleisch und Knochen, als wären sie aus Wachs. Die Hand fiel zu Boden, der Zeigefinger noch gestreckt. Erst dann fing der Alb zu schreien an. Atemlos wich Lyraine zurück, hielt aber sofort in der Bewegung inne. Ihr Vater hob sein Schwert ein zweites Mal. Steffon Moonfalls Finger schlossen sich um die Schulter des sich vor Schmerzen krümmenden Alben, als er die Spitze seines Schwertes an dessen Brust ansetzte und die Klinge tief in den Körper des Angreifers trieb. Mit einem geräuschlosen Ruck zog er die Waffe wieder heraus und fuhr zu Lyraine herum.
»Lyraine, bei den Himmelsfarben …«
Das Mädchen flüchtete in seine Arme.
Ohne ein weiteres Wort hob ihr Vater sie hoch.
Jetzt wird alles gut. Es gab keinen sichereren Ort auf der Welt als die Arme ihres Papas. Sie schlang ihm die Arme um den Hals und drückte ihr Gesicht an seine Schulter.
»Papa …«
»Ich bin hier, Zuckerkind. Wir müssen dich hier wegbringen.«
Über seine Schulter hinweg konnte sie sehen, dass der Nachtalb, mit dem er gekämpft hatte, sich nun mit Kay duellierte. »Halt dich gut fest, Lyraine«, wies ihr Vater sie an. Sie folgte der Anweisung und verschränkte ihre Finger hinter seinem Nacken. Sie konnte sehen, wie ihr Onkel Alaric ihnen den Weg freimachte. Steffon kehrte zur Treppe zurück, trug sie hinauf, nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal.
»Hör mir gut zu, Lyraine«, seine Stimme ließ keine Zweifel darüber aufkommen, wie ernst er jedes gesprochene Wort meinte. »Ich möchte, dass du in deinem Zimmer bleibst. Ich möchte, dass du nicht hinausgehst, bis deine Mutter oder ich dich holen kommen.« Er erreichte ihre Zimmertür, drückte sie auf und stellte Lyraine in der Mitte des Raumes ab. Lyraine wich bis zum Bett zurück. Stumm sah sie zu, wie er die Tür schloss. Er drehte nicht den Schlüssel, sondern wob einen mahrischen Schild. Das Kobaltblau verriegelte die Tür.
»Was sind das für Leute, Papa?«, fragte Lyraine, verunsichert auf ihrem Bett Platz nehmend. Sie entzündete mit der Mahr ihr Nachtlicht. Roséfarbene Rún hin oder her: So viel Macht besaß auch sie. Doch ihr Vater antwortete ihr nicht. Mit einem Stöhnen trat er von der Tür weg. Jetzt erst fiel Lyraines Blick auf eine Stelle oberhalb der Hüfte, auf die Steffon seine Hand legte. Als er sie wieder wegzog, waren seine Finger dunkelrot vom Blut.
»Du bist verletzt, Papa!« Lyraine erschreckte sich davor, wie schrill und ängstlich ihre eigene Stimme klang. Der Nachtalb mit den schwarzen Haaren musste ihn erwischt haben, bevor Kay ihn abgelöst hatte. Sie sprang wieder auf. Sie musste etwas finden, womit sie die Wunde verbinden konnte. Konnte sie ihr Bettlaken dafür zerreißen?
»Hast du mir zugehört, Lyraine? Es ist wichtig, dass du jetzt nicht leichtsinnig bist!« Die Stimme ihres Vaters wurde eindringlicher, als er sich zu ihr beugte und sie auf den Scheitel küsste. Im gleichen Moment erstarrte er. »Unter das Bett, Lyraine.«
»Aber Papa …«
»Lyraine!« Sein Tonfall ließ keine Diskussion zu. Zusammen mit Zisch kroch Lyraine unter das Himmelbett. Einige Sekunden lang geschah gar nichts, dann konnte Lyraine das schneidende Brennen von silberner Mahr erkennen, die das kobaltblaue Siegel in seinen Grundfesten erschütterte. Ihr Vater positionierte sich vor dem Bett. Silber. Der Angreifer trug Silber.
Lyraine rechnete damit, dass die Tür wie die Pforte des Anwesens aus ihren Angeln gerissen werden würde, doch das Aufbrechen geschah fast lautlos. Lediglich das feine Bersten von Metall und Magie drangen an ihr Ohr, als jemand die Tür von außen aufschob. Lyraine duckte sich ein wenig tiefer. Sie konnte nichts anderes von dem Mann sehen als ein paar elegante Herrenstiefel aus feinstem Leder, in denen hellgraue Beinkleider steckten. Der Eindringling trat langsam ein, die Schritte fast behutsam auf das helle Parkett setzend.
»Lord Moonfall«, sagte er unverhohlen spöttisch. Ihr Vater rührte sich nicht. Lyraine spürte, wie er die kobaltblaue Mahr sammelte und einen Schild um das Bett legte. Der Fremde näherte sich einen Schritt.
»Halt!«, hörte Lyraine ihren Vater sagen. »Ich warne Euch, Lichtalb, und das nur ein einziges Mal. Kommt nicht näher.« Ihr Vater schwieg für einen Augenblick. »Ihr müsst hier nicht den Tod finden. Niemand muss es. Ich biete Euch an, Euch zurückzuziehen.«
Der Fremde lachte. Es war kein lautes, schallendes Lachen, sondern sanft. Er setzte die Spitze seines Schwertes auf den Boden zwischen seinen Füßen auf.
»Ich fürchte, dass ich das Angebot nicht erwidern kann, Lord Moonfall«, sagte er. Lyraine konnte sich vorstellen, dass er dabei lächelte. Er klang belustigt. Gelassen. »Ihr werdet heute Nacht sterben. Hier«, sagte der Eindringling. Sie konnte die Muskeln ihres Vaters beben sehen, obwohl sie auch von ihm nur die Füße erkannte. Zwischen seinen Schuhen tropfte Blut.
»Willst du nicht herauskommen, kleine Lady?«
Kälte fuhr in Lyraines Knochen, als sie verstand, dass der Fremde mit ihr sprach. Er trat einen weiteren Schritt nach vorn, dann griff ihr Vater an.
Die Albenschwerter schlugen mit ihrem hohen Gesang gegeneinander, gleichzeitig entbrannten die Auren mit einer für Lyraine völlig unbekannten Inbrunst. Funken und Schneekristalle stoben von dem Metall und fielen auf den Boden. Lyraine zog sich weiter zurück, bis sie mit den Füßen an die Wand stieß, an der das Bett stand. Wieder und wieder trafen sich die Klingen, immer schneller, und sie konnte erkennen, wie ihr Vater den Lichtalb zurück zur Tür drängte. Ein kobaltblauer Mahrschlag begleitete den Angriff des Lords von Amber Hall, und Lyraine atmete auf, als sie ein plötzliches Keuchen des Lichtalben vernahm.
Ein zweites Geräusch erstickte ihre Hoffnung genauso schnell, wie sie aufgeglommen war – ein schmerzerfülltes Stöhnen, das von ihrem Vater kam. Steffon taumelte rückwärts, mit langsamen, unsauber gesetzten Schritten. Sie verstand, dass er am Bett Halt zu finden versuchte, doch im nächsten Moment knickten seine Beine unter seinem Körper ein. Lyraines Augen weiteten sich, als sie erkannte, wie der Angreifer einen schmalen, blutigen Dolch in seinen Stiefel zurückgleiten ließ. Ihr Vater brach vollständig zusammen.
»Papa …« Das geflüsterte Wort kam über ihre Lippen, bevor sie sich selbst hatte stoppen können. Sie gewahrte eine warnende, stoppende Handbewegung ihres Vaters, der weiter auf den Boden sank, und verstummte.
Aus einer zweiten Wunde, die ihm zweifellos