Das Zeichen der Erzkönigin. Serena J. Harper
Zopf zusammenfassend. »Ich komme«, teilte er dem Wächter mit, machte aber keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen.
Zwei Sekunden verstrichen, bis der Mann, dessen grüne Rúnir-Aura sich weder mit der von Tyran, noch mit der von Rodric messen konnte, sich umdrehte und sich entfernte.
Rodric zog aus seiner schmalen Kommode sein Hemd und streifte es sich über den Kopf.
»Wann brichst du auf?«, fragte er.
»Morgen schon«, antwortete Tyran und erhob sich mit raschelnden Flügeln. Eigentlich war es ihm fast recht, dass man ihm keine Zeit gelassen hatte, über den Befehl der Königin nachzudenken. Der Ruf, der Elnesta vorauseilte, deckte sich mit den wenigen Erfahrungen, die er mit ihr bisher gemacht hatte – was auf nichts Gutes schließen ließ.
»Mir ist neulich übrigens etwas in die Hände gefallen«, griff Rodric den Gesprächsfaden wieder auf. Tyran kam nicht umhin, eine dunkle Augenbraue anzuheben. Lächelnd schüttelte er sich ein paar flammendrote Haarsträhnen aus dem Gesicht. Was auch immer Rodric genau meinte – bei ihm bestand fast nichts aus Zufall. Aber an die distanziertere Formulierungsweise seines Freundes, ein wenig nonchalant, ein wenig vage, hatte sich Tyran gewöhnt. Rodric verbrachte zu viel Zeit mit den Herolden und den Speichelleckern hier am Hof.
Doch das, was Tyran nun in der ausgestreckten Hand des Blutritters sah, ließ ihn tatsächlich in seinem Gedankengang innehalten. Es war ein kleiner Obsidiankeil, spitz wie ein Dolch, mit einem kurzen, abgerundeten Griff. Gerade so, dass er in eine Kinderfaust passen würde.
»Du hast ihn noch?«, verblüfft nahm Tyran den Steindolch an sich. »Wir haben damals – verflucht, das müssen sechs, sieben Wochen gewesen sein, die wir daran herumgeschliffen und gefeilt haben.«
»Acht«, korrigierte Rodric sanft. »Und wir haben davon geträumt, ihn dem Jäger in die Kehle zu stoßen.« Sein Tonfall hatte etwas Grimmiges bekommen.
»Hätten wir es bloß getan.« Tyran drehte den Obsidiankeil, um ihn Rodric zurückzugeben, der sich jedoch bereits abgewandt hatte.
»Behalt ihn. Du hast mehr daran gearbeitet als ich«, sagte er nüchtern, während er in seine Stiefel stieg. Einen Moment lang betrachtete Tyran das Erinnerungsstück noch, bevor er es in die Innentasche seiner Jagdtunika gleiten ließ.
»Ich gebe ihn dir zurück, wenn wir uns wiedersehen, Bastard«, versprach er und wandte sich zur Tür. Er wusste, obwohl sie den gleichen Weg hatten – aus den Sklavenquartieren nach oben –, würde Rodric nicht mit ihm zusammen gehen. Das tat er nie.
»Ich verlasse mich darauf, Tyr.« Rodric überbrückte die Distanz, die Tyran in sich stets spürte, wenn sie wieder an getrennte Höfe geschickt wurden, und zog ihn zu einer kurzen, festen Umarmung heran, bevor er ihn beinahe aus der Tür schob.
Rodric
3
Erleichterung überkam Rodric, als er endlich durch die geschlossene Tür hörte, wie Tyrans Schritte sich entfernten. Es lag nicht daran, dass er ihn nicht gern sehen wollte – er wollte den Mann, der ihm so nah wie ein Bruder war, immer sehen –, sondern daran, dass er nicht jetzt das sorgenvolle Glitzern in der blauen Iris des Sturmalben ertragen konnte.
Aushalten konnte er vieles – aber dass der Schalk aus diesem Blick wich, das wollte er nicht erleben. Nicht seinetwegen. Nicht wegen dem, was er tat.
Er kannte den Sturmalben nun fast schon sein ganzes Leben lang. Sie waren beide auffällig gewesen, zwei sonderbare Bengel, der eine ein Askyaner mit Haar wie entzündetes Herbstlaub und einer erstaunlich passenden roten Rún, der andere der Bastard des mächtigen Lord Vaharél von Thornehold und als solcher von vornherein rechtlos. Rodric erinnerte sich nicht mehr daran, wann er Tyran zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hatte. Aber es hatte höchstens wenige Tage des Kennenlernens gedauert, bis sie sich Rücken an Rücken umringt von rauflustigen Albenjungen wiedergefunden hatten.
Der Gedanke ließ Rodric unfreiwillig lächeln. Sie hatten damals Prügel bezogen, aber nur wenig später waren sie diejenigen gewesen, die austeilten, was sie hatten einstecken müssen. Sich mit Tyran anzufreunden hatte die Ausbildung, die ihm Königin Lamia hatte zukommen lassen, erträglicher gemacht. Aber sie beide hatten für diese Freundschaft schon oft einen hohen Preis gezahlt – vielleicht würde er eines Tages zu hoch werden. Dann, wenn einer von ihnen einen Fehler beging, für den der andere bestraft werden würde, und diese Strafe mehr war, als einer von ihnen bereit wäre, im Namen ihrer Freundschaft zu ertragen. Wenn die Himmelslichter ihnen auch nur ein wenig gewogen waren, würde dieser Tag noch in weiter Ferne liegen.
Rodric legte sich den Gürtel aus schwarzem Leder an, auch wenn er in der Gegenwart der Königin keine Waffen tragen würde. Keine außer seinen Händen. Seinen Zähnen.
Er warf keinen Blick mehr in den ovalen kleinen Spiegel an seiner Wand, sondern öffnete ein weiteres Mal die Tür.
Der Weg, der ihn durch die Sklavenquartiere bis ins obere Geschoss des Kristallpalastes führte, war lang, und obwohl er es besser wusste, als Lamias Geduld überzustrapazieren, beeilte er sich nicht. Sein Zimmer lag am Ende des Ganges, von dem mehrere Abzweigungen in andere Bereiche des Kellers führten – hin zu den Lagerräumen, in denen die Unmengen der wöchentlich benötigten Speisen aufbewahrt wurden, um den Kristallpalast zu versorgen, aber auch zu den Kerkerzellen, die möglicherweise der einzige Ort hier waren, der noch mehr gefürchtet wurde als die Sklavenquartiere. Um diese Uhrzeit waren die Gemeinschaftsräumlichkeiten hier unten fast verwaist, wenn man von ein paar vereinzelten jungen Kriegern absah, die sich mit geducktem Kopf abwandten, als der Blutritter an ihnen vorüberging.
Er passierte die Schleuse aus zwei vergitterten Toren, die die Treppe nach oben freigaben. Die Tür, die er am Fuß der Treppe erreichte, hatte in Rodrics Augen immer schon die zwei Seiten des Kristallpalastes sinnbildlich widergespiegelt – die Seite, auf der er sich gerade noch befand, zeigte das massive, mahrisch behandelte Erlenholz, an dem sicher nicht wenige Ausbruchsversuche schon gescheitert waren. Die andere Seite hingegen war mit einem fluoreszierenden Silberlack behandelt worden, um den Schimmer der mit Spiegeln und Kristallen ausgestatteten Flure aufzufangen. Die Tür sah auf jener Seite aus wie jede andere im Schloss, mit einem eleganten, geschwungenen Griff und verschnörkelten weißen Verzierungen.
Es hatte keine Spezifizierung gegeben, wo Lamia ihn zu empfangen gedachte. Doch nachdem, was in Amber Hall geschehen war, konnte Rodric sich denken, dass es der Thronsaal sein würde und nicht eines der Privatgemächer. Noch nicht.
Der Korridor führte ihn zu dem säulengesäumten Gang. Zwischen jeder Säule stand einer der Wächter der Königin, genauso regungslos wie der helle Stein selbst. Rodric konnte eine leichte, kontinuierliche Erschütterung spüren, an die er so gewöhnt war, dass er sie sich nur selten bewusst machte – es war der Fluss Fion, der weiße Strom, dessen Verlauf durch das Schloss führte. Der Thronsaal befand sich auf der westlichen Seite der riesigen Palastanlage, aber hier waren sie dem Wasser so nahe, dass Rodric manchmal glaubte, die Kristalle an den Wänden zittern zu sehen.
Vor dem Thronsaal hielt er inne. Obwohl er schon Hunderte – Tausende Male über diese Schwelle getreten war, würde ihm der Anblick auch dieses Mal wieder die schreckliche Mischung von überwältigender Bewunderung und wildester Verachtung abnötigen. Für den Bruchteil einer Sekunde war er wieder der zwölfjährige Junge, der er gewesen war, als er zum ersten Mal die Wucht gespürt hatte, mit der sich die Flügeltüren hinter ihm schlossen.
Er erinnerte sich, wie ihm angesichts der Königin auf ihrem Thron der Atem gestockt hatte. Er erinnerte sich an ihr Kleid aus Seide von den Frühlingsinseln. Er erinnerte sich daran, dass ihre Hand warm gewesen war, die sie an seine Wange gelegt hatte, obwohl alles hier funkelte wie Eis. Er erinnerte sich an Schmerz.
Der Moment kam und verflog wie jedes Mal. Einer der Wächter öffnete ihm die Tür, und noch vor dem gleißenden Licht strömte als Wahrnehmung der Geruch auf ihn ein, den er noch vor wenigen Minuten mit Wasser und Seife von sich hatte abwaschen wollen. Rodric gestattete sich keinen Moment des Zögerns. Er trat ein, sich ganz auf Lamia konzentrierend.
Auch an diesem Abend trug die Königin Seide.