Das Zeichen der Erzkönigin. Serena J. Harper

Das Zeichen der Erzkönigin - Serena J. Harper


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einer geschmeidigen Bewegung verneigte Rodric sich.

      Erst jetzt erlaubte er sich, den Blick für einen kurzen Moment auf den aus einer Vielzahl von Wunden blutenden Alb zu richten, der mit auf dem Rücken gefesselten Armen auf dem Boden vor den Stufen zum Thron kniete.

      Auch ansonsten waren sie nicht allein – wie immer beobachtete der Jäger aus dem Schatten der Säulen heraus alles mit seinen kalten Augen, und ein paar vereinzelte Mitglieder des Hofes hatten sich Plätze in gebührendem Abstand gesichert.

      »Rodric«, sagte Lamia mit weicher Stimme. Er richtete sich wieder auf.

      »Euer Majestät«, antwortete er, die Füße schulterbreit auseinanderstellend und die Hände hinter dem Rücken verschränkend. Sie lächelte, aber er konnte ihre kalte Wut fast genauso stark riechen wie das Blut.

      Lamia faltete die Hände in ihrem Schoß und legte ihren Kopf schräg. Rodric fühlte den Blick aus ihren hellen, eisblauen Augen auf sich lasten.

      »Ich dachte mir, du wünschst dir sicher die Gelegenheit, mir zu erklären, was in Amber Hall geschehen ist«, sagte die Königin und wies auf den Alb, der unter seinen Schmerzen zitterte. »Du brauchst keine Sorge haben, dich zu wiederholen. Ich habe bisher nichts gehört, was mir wirklich … weiterhelfen würde, zu verstehen.«

      Rodrics Augen folgten intuitiv ihrer Geste und er stellte fest, dass es sich bei dem nackten, verletzten Mann nicht um irgendeinen von Lamias Sklaven handelte. Es war Nephas, der ihr schon gedient hatte, bevor Rodric zum Kristallpalast gebracht worden war. Er war nicht ihr Schild, hatte aber seit einem knappen Jahr die Position des Marschalls inne.

      Rodric ließ seinen Geist tastend über die Aura des Erdalben streichen. Die Wunden, die ihm äußerlich zugefügt worden waren, verursachten mit Sicherheit Schmerzen – Schnitte, willkürlich gesetzt, und Peitschenstriemen, die wiederum auf eine hohe Präzision hinwiesen. Rodric sah den Jäger freudlos lächeln.

      Doch was den Alb tatsächlich zum Zittern brachte, war ein Schmerz, für den es keine äußerliche Heilung gab, keine Linderung. Es gab keinen Trank, den man ihm hätte geben können, keinen Zauber, den zu sprechen etwas genützt hätte. Es war die Scherbe.

      Rodric streifte das Unbehagen ab, das ihn erfasst hatte, löste seine Armhaltung und trat näher auf die Königin zu.

      »Der Angriff auf Amber Hall erfolgte, wie von Eurer Majestät gewünscht, vor zwei Tagen, unter der Leitung von Sir Nephas. Das Ziel war die Liquidierung der abtrünnigen Königin Marielle und die Befriedung des umliegenden Gebietes. Zu diesem Zweck hattet Ihr die Exekution von Königin Marielles Ehemann, Lord Moonfall, und die Ergreifung ihrer Tochter und des Trigons befohlen.« Rodric versuchte, in dem Gesicht der Königin zu lesen, doch Lamias Ausdruck blieb bei dem sanften Lächeln, dem nicht zu trauen er schon vor langer Zeit gelernt hatte.

      »Die Hinrichtung der Verräterin wurde gemäß Eurer Wünsche durchgeführt.« Rodric fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Und Lord Moonfall fiel in einem Duell gegen Sir Malagad.«

      »So hörte ich, ja«, antwortete die Königin, sich leicht vorbeugend. »Und als ich genau den gleichen Bericht von Nephas hörte, wurde mir mein Herz sehr warm, bei dem Gedanken, wie treu die Männer meines Hofes sich darum bemüht haben, die Gefahr im Süden niederzuschlagen, um Shayla Frieden zu bringen.« Sie begutachtete ihre schimmernden Fingernägel. »Als ich jedoch befahl, mir die Tochter der Verräterin bringen zu lassen, wurde ich darüber informiert, dass nicht nur sie, sondern auch der Truchsess von Amber Hall verschwunden sind.«

      Ihre Stimme wurde schneidend. Rodric spürte die Wut aufflackern. Der Marschall stieß einen gequälten Laut aus. Ein dumpfes Pochen hinter Rodrics linkem Auge ließ seinen Magen sich für einen Moment zusammenziehen, bevor er die Empfindung tief in seinem Inneren versiegelte. Er trat an dem bebenden Mann vorbei, erklomm die Stufen, die zu dem Thron der Königin führten, legte eine Hand auf die steinerne Armlehne und beugte sich zu ihr herab.

      »Ein kleines Mädchen und ein alter Mann«, sagte er, »… verschollen in den Wäldern von Shayla. Meine Königin … Liebste … Ich habe keine einzige mächtige Rún in Amber Hall gespürt, nachdem Lord Moonfall getötet wurde. Ihr wisst selbst, dass Königin Marielles Rún violett war. Welche Kraft mag das Kind schon haben? Und der Truchsess …« Rodric hob die Augenbrauen. »Er ist fast ein Greis, und er trägt eine fliederfarbene Flamme.« Rodric lächelte, als sein Zeige- und sein Mittelfinger den Bogen des Kiefers der Königin nachzeichneten. »Man wird sie finden. Und wenn man sie nicht findet, dann nur, weil sie längst tot sind.«

      Obwohl ihre Augen ihn so sehr an Eis erinnerten, erkannte Rodric mit Genugtuung, dass sich in den Tiefen ihrer Iris etwas regte. Da war sie, die eine Schwäche, die sie nie vor ihm hatte verbergen können: Die Tatsache, dass sie sich nach der Echtheit der Begierde sehnte, die sie gerade in seinen Augen zu erkennen glaubte. Natürlich war es noch mehr als das – denn attraktive Männer gab es viele. Es mangelte ihr nicht an Auswahl, wenn sie sich einen Sklaven oder einen Gespielen aussuchen wollte.

      Aber niemand außer ihm trug eine schwarze Rún, noch dazu das Schwert, das ihn als Mitglied der mächtigen Kriegerkaste auszeichnete. Das Schwarz, die stärkste Farbe, die die größte Magietiefe anzeigte – die Möglichkeit, auf einen Schlag am meisten von der Mahr zu schöpfen oder auch am längsten einen Zauber aufrechtzuerhalten, war eine seltsame Fügung des Schicksals. Es war Zehntausende von Jahren her, das zuletzt ein Alb mit einer schwarzen Rún geboren war, und in der Kriegerkaste gab es nur einen Einzigen, von dem man noch den Namen kannte: Auberon, der der Gefährte der letzten Erzkönigin gewesen war. Auch sie hatte Schwarz getragen und damit die Macht gehabt, ganz Norfaega zu regieren.

      Das war heute so lange her, dass die Geschichte für die meisten zu einem Märchen verkommen war. Aber Rodric wusste wie alle, denen eine intensive Ausbildung an einem Königinnenhof zuteil geworden war, dass es sich keineswegs um ein Märchen handelte. Die Erzkönigin war real gewesen, genauso wie ihr legendärer Hof, der an eben diesem Ort, dem Kristallpalast, vor vielen Albenaltern geherrscht hatte.

      Nach ihrem Tod und dem Zerbrechen des Erzhofes war Norfaega erst in drei Reiche zerfallen – in Askyan, das Sturmalbenheim im Norden, aus dem sein Freund Tyran stammte. In Shayla im Zentrum des Kontinents, das damals vor allem von Erd- und Nachtalben bevölkert worden war, bevor die Lichtalben von den Inseln kamen. Und zuletzt das südlichste Königreich Glynvail. Lange hatten sich die drei Königinnen, die damals über die drei Reiche herrschten, nicht halten können. Die Länder waren weiter zersplittert, das uralte Blut der Alben war dünner geworden, und Kriege um längst vergangene Ansprüche hatten Norfaega in viele einzelne Höfe zerfetzt.

      Königin Lamia war die erste Herrscherin nach beinahe fünfzigtausend Jahren, die es geschafft hatte, so gut wie alle der elf Höfe in Shayla unter ihre Kontrolle zu bringen. Lamias Rún, der Stern, der sie als Königin auszeichnete, war silbern und hatte damit die zweitmächtigste existierende Farbe. Doch das allein war es nicht, was ihr die Fähigkeit gegeben hatte, in weniger als zweitausend Jahren zehn der Albenhöfe zu unterwerfen.

      Rodric spürte, wie Lamia ihre Hand auf seine Brust legte.

      »Wie gern würde ich auf diese Worte vertrauen«, schnurrte sie. »Aber du weißt genauso gut wie ich, dass ich nicht zulassen kann, dass die Bevölkerung der umliegenden Dörfer sich … Geschichten von einer überlebenden Königinnentochter erzählt. Oder riskieren, einen erfahrenen Truchsess Unruhe stiften zu lassen. Sir Malagad hat mir berichtet, große Teile des Anwesens seien zerstört worden – aber wenn ich entschieden habe, welche meiner … Freundinnen dort einziehen wird, muss es restauriert werden. Bis dahin würde sich jedes Gerede, selbst kleinstes Geflüster, von einer Erbin des Anwesens verbreiten wie … wie eine Krankheit.« Ihre Hand streichelte die Haut unter seinem Hemd.

      Rodric wandte den Blick nicht von ihr ab. Sie hatte längst einen Gedanken gefasst, ein Ziel, das sie verfolgte. Ekel stieg in ihm auf, als sie die Lippen kokettierend zu einem breiteren Lächeln verzog. »Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, solche Bestrebungen im Keim zu ersticken …«, sie tippte sich mit dem langen Fingernagel an die Unterlippe.

      »Eure Herolde werden mit gewohnter Härte durchgreifen und …«, setzte Rodric zum Sprechen an, gab


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