Das Zeichen der Erzkönigin. Serena J. Harper
Finger hindurch. Der Lichtalb kam näher, die Spitze seines Schwertes schleifte auf dem Boden.
Lyraine vernahm ein Geräusch, das sie nicht zuordnen konnte, dann ging der Lichtalb neben ihrem Vater auf ein Knie herab, auf sein Schwert gestützt.
»Siehst du auch gut zu, kleine Lady?«, fragte er. Er blieb zu aufrecht, als dass sie sein Gesicht hätte sehen können, aber sie erkannte die Spitzen von blassgoldenem, langem Haar, die über das Blut ihres Vaters streiften, als er sich leicht vorbeugte. Seine Hand schloss sich um den Hals ihres Vaters. Sie konnte die silberne Mahr fließen sehen, wollte protestieren, wollte schreien, aber jeder Schrei blieb ihr im Halse stecken, als sie den Schmerzenslaut vernahm, der sich der Kehle ihres Vaters entrang. Er wurde lauter, ein langgezogener, gequälter Laut. Der Nachtalbenlord wand sich unter dem Griff und dem Fluss der silbernen Mahr, warf seinen Kopf zur Seite, und für einen Moment sah er sie mit seinen samtblauen Augen an.
Ein feiner, silberner Riss ging durch beide Glaskörper, die sich im nächsten Sekundenbruchteil blutrot auffüllten. Der Schrei brach so abrupt ab, dass er noch für einige Herzschläge in Lyraine nachhallte.
Steffon Moonfall war tot.
Der Lichtalb zog seine Hand zurück. Er streifte sich Reithandschuhe über.
Erst jetzt bemerkte Lyraine, dass sie ihre Fingernägel so tief in den Parkettboden gestoßen hatte, dass sie gesplittert waren.
Der kobaltblaue Schild erlosch.
Ihr Papa war tot.
Der Fremde erhob sich. Lyraine hatte das Gefühl, eine eiserne Klammer läge fest um ihrer Lunge und würde sie an jedem Atemzug hindern. Ein Zittern ergriff sie, gegen das sie sich nicht wehren konnte. Mit drei Schritten war der Mörder an ihrem Bett angekommen und ließ sich mit einem schweren Seufzen darauf nieder, die Spitze des Schwertes in den Boden drehend.
Sie war wie gelähmt. Was sollte sie jetzt tun? Was, bei den Himmelsfarben, konnte sie überhaupt tun? Wo war ihre Mutter? Wo waren ihre Onkel?
»Du weißt, dass ich dich hören kann.« Der Lichtalb sprach wieder mit ihr. Für einen Augenblick schloss Lyraine die Augen, als könnte sie das an einen weit entfernten Ort bringen. Aber ganz gleich, wie groß die Macht der Alben war: Sie würde sich nicht fortwünschen können.
»Also«, sagte der Mörder, »du kannst es dir aussuchen: Du kannst eine artige kleine Lady sein und herauskommen. Oder …« Er zog das Schwert die Fingerbreite, die er es in den Holzboden gebohrt hatte, wieder heraus. »… oder ich muss dich holen kommen.«
Wieso war Zisch kein echter Drache? Wieso war ihre Rún roséfarben und nicht silbern wie seine, oder zumindest ein wenig mächtiger? Lyraine spürte, wie die Angst in ihr sich immer mehr verdichtete. Sie würde ihm nicht antworten. Er hatte ihren Papa getötet. Sie würde nicht ein Wort an ihn richten. Er lachte auf und erhob sich wieder. Sie konnte seine behandschuhte Hand am Pfosten des Himmelbettes entlangstreichen hören, und dann sah sie sie an dem unteren Saum der Bettdecke.
Im gleichen Moment glitt eine Aura über den Boden, die ihr den letzten Rest von Atem aus den Lungen riss.
Der Lichtalb verharrte in seiner Bewegung.
»Was glaubst du, was du da tust?« Die Stimme, die gesprochen hatte, war dunkel und rau. Lyraine spürte, wie ihre Nackenhaare sich aufstellten. So eine Stimme hatte sie noch nie gehört. Sie gehörte zu einem Mann, einem Krieger, der hinzugekommen war, und, wie seine Fußstellung aussah, im Türrahmen lehnte. Schwarze, abgetragene Reitstiefel.
Der Lichtalb erhob sich.
»Und was interessiert es dich, Bastard?«, sagte er, ohne die Frage zu beantworten. Die Gelassenheit war aus seiner Stimme gewichen.
»Gar nichts.« Die schwarzen Stiefel wandten sich zum Gehen. »Ich werde Königin Lamia ausrichten, dass du dir lieber ein neues Spielzeug aussuchen gegangen bist, anstatt ihrem Befehl zu folgen und der Hinrichtung in den Gemächern beizuwohnen.«
Das Geräusch, das der Lichtalb ausstieß, passte nicht zu der Nonchalance, die er zuvor gezeigt hatte. Lyraines Knöchel traten weiß an ihren Händen hervor, so fest klammerte sie sich an Zisch. Das scharfe Reiben von Metall zeigte ihr, dass der Mörder seine Waffe zurück in die Scheide geschoben hatte. Er trat zur Tür. Sie konnte hören, wie er den Schlüssel von der Innenseite abzog.
»Lauf nicht weg«, spottete er, als er die Tür hinter sich und dem Fremden zuzog und den Schlüssel von außen drehte.
Lauf nicht weg. Als könnte sie. Als reichte die roséfarbene Rún – vor allem eine vor dem Aufblühen, eine, die noch nicht vollständig war! – dafür aus, das Schloss zu sprengen! Als wäre sie nicht völlig gefangen in ihrem eigenen Zimmer! Aber für den Moment war es Lyraine völlig gleich. Sie konnte jetzt nicht darüber nachdenken. Sie konnte an gar nichts denken. Ihr ganzer Körper fühlte sich an, als sei er mit Steinen gefüllt worden. Es kostete unendlich viel Mühe, den Griff um Zisch ein wenig zu lockern. Mit letzter Kraft krabbelte sie wieder weiter nach vorn. Ihre Hand fand die erkaltete ihres Vaters.
Sie wusste nicht, ob sie wenige Minuten oder viele Stunden so da gelegen hatte. Lyraine hatte nicht gehört, wie jemand den Schlüssel im Schloss gedreht hatte, aber die Stimme, die zu ihr sprach, war ihr wohlbekannt.
»Lyraine … Lyraine, komm heraus …« Obwohl sie die Stimme kannte, brauchte sie einen Moment, in der Wirklichkeit anzukommen.
Es war Gorwyn, der Truchsess. Er hatte die Hand nach ihr ausgestreckt, aber in dem einen Arm hielt sie Zisch und die andere Hand ruhte immer noch in der ihres Vaters.
»Lyraine, kleiner Schatz, wir müssen hier weg«, sprach er auf sie ein. »Es brennt.« Sie rührte sich nicht. Konnte nicht. Wollte nicht. Sie wollte ihren Papa. Sie wollte ihre Mama.
Hinrichtung, hatte der Fremde gesagt.
Wessen Hinrichtung?
»Du musst Zisch in Sicherheit bringen, Lyraine. Es gibt ein Feuer!« Die Stimme des Truchsess war beinahe flehend. Zisch. Ja, sie musste ihn retten. Er war ein Drache, aber sie wusste, was Feuer mit Stoff tat. Als Lyraine die Hand ihres Vaters losließ, fühlte ihre eigene sich genauso kalt an. Kaum dass sie ihn losgelassen hatte, ergriff Gorwyn ihren Arm und zog sie unter dem Bett hervor – doch sie spürte den Halt schon nicht mehr, als ihr schwarz vor Augen wurde.
Varcas
1
Als der ehemalige Großmeister der Seher an diesem Abend vor der mit Wasser gefüllten Silberschale in seinem Schlafzimmer Platz nahm, um seinen Geist auf die Nacht vorzubereiten, fühlte er zum ersten Mal das Gewicht der Jahre.
Schlimmer noch: Varcas Debray fühlte sich alt. Die Tatsache, dass er für einen Albenlord noch weit von dem Höchstmaß dessen, was er an Lebenszeit ausschöpfen konnte, entfernt war, machte das nicht besser. Er wusste nicht, was genau es war, das ihm dieses Gefühl vermittelte. Es war nicht die alte Narbe in seinem Schulterblatt, die bisweilen kurz vor einem Wetterumschwung zog, als sei sie noch eine frische Wunde wie vor eintausenddreihundert Jahren. Es war auch nicht die Lustlosigkeit, die ihn manchmal befiel, wenn er keine neuen Bücher hatte auftreiben können und sich mit Lektüre begnügen musste, die er schon ein Dutzend Mal gelesen hatte. Sein Gedächtnis war nach wie vor hervorragend, sodass er sich nicht einmal einreden konnte, sonderlich viel Neues bei wiederholten Lesedurchgängen zu finden.
Nein, an diesem Abend kurz vor Wintereinbruch war es etwas völlig anderes.
Varcas hatte immer geglaubt, sollte er sich jemals alt fühlen, käme dieser Eindruck zusammen mit einer weisen Gelassenheit, die ihm erlauben würde, die Fehler seiner Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen. Er hatte sich darum bereits mehrfach bemüht. Niemand konnte behaupten, er hätte nicht alles getan, um zu signalisieren, dass die Streitigkeiten Norfaegas – besonders die Shaylas – nicht mehr die seinen waren. Aber während er das Wasser mit einem langen, dunklen Fingernagel in Schwingungen versetzte, war es das komplette Gegenteil von Ruhe, das ihn erreichte. Nein, es handelte sich viel eher um eine schwache Ahnung einer bevorstehenden Irritation. Eine Gefahr wollte er es nicht nennen. Ehemalig