Das Zeichen der Erzkönigin. Serena J. Harper
lassen. Das Volk ist … schrecklich leicht durch solche falschen Hoffnungen irritierbar. Es ist meine – unsere – Pflicht, es vor den rebellischen Einflüssen so gut wie möglich zu schützen.« Rodric richtete sich langsam wieder auf. Er spürte, wie ihre Gedanken das Netz woben, welches der Grund gewesen war, warum er hier war. Warum sie Tyran, den einzigen Freund, den er je gehabt hatte, fortschicken würde. Er stieg die Stufen vom Thron herab, sich wegdrehend. Er würde ihr bei diesem Spiel nicht zusehen.
»Was meinst du, Vetis?«, fragte sie und der Jäger löste sich von seinem Platz im Schatten. Er war der einzige Lichtalb, den Rodric kannte, der sich das Haupthaar rasierte. Die helle Haut glänzte unter dem Licht des Thronsaals, bis hin zu den weißen, gedrehten Hörnern.
»Mylady?« Er verneigte sich tief vor ihr.
»Ich möchte deine Meinung hören, Vetis. Denkst du, das Volk ließe sich … beruhigen, wenn wir ihm die Leichen der letzten Mitglieder des rebellischen Hofes präsentieren?«
»Mit Sicherheit, Herrin«, erwiderte Vetis. »Das Kind ist zu jung, um eine vollständige Rún zu tragen. Welches Zeichen sie einmal erhalten wird, ist noch nicht bestimmbar. Aber eine Erbin des Anwesens lebendig herumlaufen zu lassen wäre für den nächsten Regenten von Amber Hall nicht vorteilhaft, Mylady.«
Rodric drehte sich herum, das Kinn leicht anhebend. »Ich bin sicher, Eure Männer betreiben bereits jeden erdenklichen Aufwand, um das Kind und den Truchsess zu finden.«
Lamia nickte. »Das tun sie, ganz bestimmt. Aber ich denke, ich möchte dennoch den sichersten Weg wählen. Wenn wir nur – eine Kinderleiche hätten.« Ihr Lächeln vertiefte sich. Rodric spürte, wie selbst die tuschelnden Höflinge stiller wurden.
Eine Kinderleiche zu beschaffen stellte sich nicht als schwierig dar – viele Kinder hatten den Herbst in Val Thalas, der Kristallstadt, über die der Palast herausragte, nicht überlebt, zu knapp waren die Nahrungsmittel für den Pöbel auch in diesem Jahr geworden. War es das? War das die schmutzige Aufgabe, die sie dieses Mal für ihn bestimmt hatte? Hinabzusteigen in die Straßen, die nichts mehr von dem silbernen Glanz trugen, weil jener längst weggewaschen worden war von Regen, Blut und Tod? Und dort einer der Hüterinnen für zwei Münzen die Leiche eines verhungerten Mädchens abzukaufen, den Lamia zur Unkenntlichkeit verbrennen und als die verschollene Königinnentochter ausgeben konnte?
Lamia blickte Rodric an, prüfend, als suche sie etwas in seinem Ausdruck. Sie löste ihre Augen nicht von ihm, als sie weitersprach.
»Nephas«, ihre Stimme war ein sinnliches Schmeicheln, »wie alt ist eigentlich deine Tochter?«
Das Geräusch, das sich der Kehle des knienden Alben entrang, jagte einen Schauer über Rodrics Rücken. Rodric spürte, wie Kälte sich um sein Herz schloss.
»Meine Königin, Euer Majestät, Königin Lamia …« Nephas schaffte es, seine Stimme weit genug zu festigen, um zu sprechen, und er rutschte auf den Knien näher an die Stufen des Thrones heran. »Ich flehe Euch an … Bitte …«
»Sie hat das richtige Alter, nicht wahr, Vetis?«
Der Jäger nickte.
Der Marschall, der keiner mehr war, heulte in wildem Protest auf.
Sinnlos. Rodric hätte es ihm sagen können, dass kein Wort, keine Bitte, kein Flehen die Königin jetzt noch würde umstimmen können. Aber Nephas wusste dies selbst, er hatte ihr länger gedient als Rodric, wenn auch auf andere Weise. Dennoch verklang sein Betteln nicht. Rodric nahm die Hände wieder hinter den Rücken, umschloss fest sein eigenes Handgelenk, an dessen Unterarm er die schwarze Rún glimmen fühlen konnte.
Die Königin überschlug die Beine. Die Wut war verflogen. Rodrics Raubtiersinne witterten Zufriedenheit.
»Du wirst Nephas’ Tochter herholen, Rodric«, sagte sie so sanft, als hätte sie ihn gebeten, ihr ein Glas Wein einzuschenken. »Und dann wirst du sie verbrennen. So eine Aufgabe kann ich keinem anderem als meinem Blutritter anvertrauen.« Sie verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. Rodric glaubte, seinen eigenen Arm so fest zu drücken, dass der Knochen zerbrechen müsste.
»Und du, Nephas, du solltest dir überlegen, wie du dich bei mir dafür bedanken möchtest, dass ich dir die Gelegenheit gebe, dass jemand dein Versagen korrigiert«, fügte sie hinzu. Rodric hatte genug gehört. Er würde nicht bleiben wie die anderen Höflinge, die danach gierten, zu erleben, wie mit einem der ihren verfahren wurde, der in Ungnade gefallen war.
Rodric verneigte sich knapp und drehte sich um. Flucht, bevor er das Schwarz entfesselte. Flucht, bevor sie die Scherbe einsetzte.
Er vernahm raschelnde Seide, als sie sich erhob.
»Rodric!« Ihre Stimme fuhr wie ein Peitschenschlag auf ihn nieder. Er hielt inne, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Wenn du darüber nachdenken solltest, mit welcher Hingabe du meine Befehle in Zukunft ausführen möchtest, dann vergiss nicht, dass ich aus reiner Güte für die Leiche des Truchsess nicht den askyanischen Rotschopf gewählt habe.« Ihre Worte drangen bedrohlich tief in seinen Verstand ein. Rodric schwieg und stieß die Flügeltüren auf, bevor sie ihm geöffnet werden konnten.
Varcas
4
Es kam Varcas wie eine Ironie des Schicksals vor, dass die große Offenbarung an Wissen, die die Vision ihm hatte zuteilwerden lassen, begleitet wurde von nicht enden wollendem Nebel, der sein Reisetempo verlangsamte. Er hätte die Mahr einsetzen können, um die Schwaden zu vertreiben, die so dicht waren, dass er vom Pferderücken aus kaum die Hufe erkennen konnte, wie sie nach sicherem Halt auf dem Boden suchten. Aber er wollte mit der grauen Rún keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Grau war keine einzigartige Farbe, aber eine sehr, sehr seltene. Er hatte zeit seines Lebens nur wenige Männer gekannt, die Grau trugen, und noch weniger Frauen. Heute gab es fast niemanden mehr, der mit einer mächtigeren Farbe als Rot geboren worden war.
Früher hatte ihn die Veränderung, die durch die Alben ging, noch beunruhigt – das Aussterben mächtiger Blutlinien bedeutete eine Erschütterung alter Grundsätze und Prinzipien, mit denen er aufgewachsen war. Aber heute glaubte er, dass die Himmelslichter vielleicht zu Recht immer weniger mächtige Königinnen, Krieger, Heilerinnen, Seher, Hüterinnen und Wächter, und ja, auch Hexen geboren werden ließen. Die Alben hatten einst eine Macht gehabt, die sich mit keiner anderen in Norfaega vergleichen ließ. Wohin hatte sie das geführt?
Auf Varcas’ Weg durch Shayla konnte er es genau erkennen. Er mied die Dörfer und Siedlungen, so gut es ging, doch die schnellsten Wege waren jene, die fest und breit genug waren, um darauf Wagen und Kutschen fahren zu lassen, und diese führten unweigerlich zu den Städten. Vermutlich war seine Vorsicht unbegründet, und dennoch benutzte Varcas die Mahr, um sein Bild zu verschleiern.
Kein Alb konnte unsichtbar werden, auch er nicht, aber eine leichte Illusion zu weben, die ihn vor neugierigen Blicken verbarg, war eine verhältnismäßig leichte Aufgabe, besonders weil sie keiner mächtigen Rúnir-Farbe standhalten musste. Menschen waren größtenteils blind wie Spitzmäuse, und selbst wenn ihre Augen sie nicht im Stich ließen, wagten sie es doch kaum, genauer hinzusehen. Die Alben, die ihm ansonsten begegneten, waren meistens nicht einmal in der Basismagie unterrichtet worden und beherrschten nur jene Ebenen der Mahr, die ihnen angeboren war. Auch die Furcht vor Fremden in Zeiten wie diesen war Varcas bei seiner Reise ein unabdingbarer Vorteil.
Als die erste Nacht und der erste Tag vergangen waren, rastete Varcas in einer kleinen Herberge. Er hatte nicht die Linie verfolgt, die sein Blutwasser ihm auf der Karte angezeigt hatte, und den Kristallpalast großzügig umritten. Wenn es jemanden gab, unter deren Blick seine Maskerade fallen würde, dann war es die Silberne Königin.
Er aß schweigend den Eintopf, den man ihm servierte, spülte mit reichlich Wasser nach. Varcas wusste, dass er einige Stunden Schlaf brauchen würde, bevor er seine Reise fortsetzen konnte, doch als er ungestört in dem kleinen Zimmer unter dem Dach war, öffnete er stattdessen die winzige Luke, die den Blick auf den Nachthimmel freigab. Im Osten brannten die Lichter feuerrot, der restliche Himmel blieb schwarz. Der Nebel lag glücklicherweise tief auf dem Boden und in den Tälern, sodass die