Politik der Geschwindigkeit. Jonas Frick
Bibliographie
Einleitung
»Internet grade so langsam. Ich würde mich am liebsten umbringen.« (@therealmoneyboy am 19. September 2014)
Will man die Geduld einer Person testen, dann konfrontiere man sie mit langsamem Internet. So oder ähnlich lautet ein beliebter Meme-Spruch über die digitalen Alltagssorgen. Wie langsame Computer gehört langsames Internet zu den lästigsten Tech-Problemen unserer Zeit.1 Je nach Studie verlassen zwischen 40 bis 60 Prozent der NutzerInnen eine Website, die nicht innerhalb von drei Sekunden lädt. Google hat vor zehn Jahren berechnet, dass 200 beziehungsweise 400 Millisekunden Verzögerung in der Ladezeit das tägliche Suchverhalten um 0,2 beziehungsweise 0,6 Prozent reduzieren.2 Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2017 steigt die Bounce-Rate – das heißt: der Anteil an UserInnen, die nur eine einzige Seite auf einer Homepage betrachten – bei zwei Sekunden Verzögerung um 103 Prozent.3 Anders gesagt: Je länger eine Website lädt, desto schneller verlieren Menschen ihr Interesse daran.
UserInnen sehnen sich nach der größtmöglichen Datengeschwindigkeit. Dafür werden Milliardenbeträge in Forschung und Infrastruktur investiert, beispielsweise in 5G, das nicht nur eine schnelle Internetverbindung, sondern auch die endgültige Einführung der digitalen Zukunft verspricht. Der laufende Ausbau des Telekommunikationsnetzwerks setzt den neuen Standard für die kommunikative Durchdringung unserer Welt. Möglichst bald schon hat alles mit allem im Kontakt zu stehen – und dies mit höchster Geschwindigkeit. Will künftig der Kühlschrank mit dem Herd, das Mobiltelefon mit dem Haus, das Auto mit der Ampel und die Überwachungskamera mit der polizeilichen Datenbank kommunizieren, dann bedarf es, so die gängige Argumentation, eines Ausbaus der Telekommunikationsinfrastruktur. Der dafür entwickelte Standard 5G setzt sich aus drei Stufen zusammen. Bereits umgesetzt wurde der erste Teil, der ›Release 15‹. Dieser ermöglicht die zielgerichtete Ausstrahlung von Funkwellen und dadurch die Steigerung der Datenrate. Der in den kommenden Jahren geplante ›Release 16‹ soll die Latenzzeiten auf unter eine Millisekunde senken. Das heißt: Die Zeit, die zwischen der Eingabe und der Umsetzung eines Befehls vergeht, soll minimiert werden. ›Release 17‹ schließlich wird die Kapazität des Netzwerkes steigern. Bis zu einer Million Geräte sollen künftig pro Quadratkilometer versorgt werden können. Wieso aber brauchen wir einen neuen Standard? Konnten wir mit 4G und allen anderen technischen Vorgängern nicht genügend miteinander kommunizieren? Und stören uns die wenigen Sekunden Verzögerungen tatsächlich in unserem Alltag? Die technische Antwort auf diese Fragen lautet, dass sich die Anzahl an Interaktionen und sowohl die dabei entstehende Datenmenge als auch die Notwendigkeit komplikationsfreier Verbindungen rasant steigern werden. Wenn Autos automatisch und ohne Unfall fahren sollen und gleichzeitig die Kapazität vorhanden sein muss, um den Kühlschrank mit Informationen zu versorgen, haben wir es mit einer Unmenge an Daten zu tun, die ohne Verzögerung an ihr Ziel gelangen müssen. Alleine ein autonomes Fahrzeug soll gemäß einer Berechnung von Intel vier Terabyte Daten pro Tag generieren.
Noch ist 5G nicht flächendeckend umgesetzt. Doch erste Anwendungen stehen bereits in den Startlöchern, zum Beispiel der in einem österreichischen Informatikunternehmen programmierte ›Bee-O-Meter‹, ein smarter Bienenstock, der mit 5G-Technologie ausfliegende und zurückkehrende Bienen zählt und BienenbesitzerInnen allfällige Missstände tagesaktuell mitteilt.4 Oder das modifizierte Handy, das es einer blinden Skifahrerin dank Reaktionszeiten von unter 10 Millisekunden ermöglicht, den Hang alleine zu meistern, indem sie die Anweisungen ihres Guides per Telefon annimmt. »Noemi ist blind – doch mit 5G Technologie fährt sie den Hang hinunter, als könne sie sehen«5, lässt sich Deutschlands Vodafone-CEO Hannes Ametsreiter begeistert zitieren. Freilich gehören weder BienenzüchterInnen noch sehbehinderte Menschen zu der Zielgruppe von 5G. Beide fungieren vielmehr als werbetechnisch wirkungsvoll eingesetzte Nebenschauplätze einer auf Tempo getrimmten Wirtschaft und Gesellschaft.
Die anvisierte Kundschaft von 5G findet sich in der Großindustrie. Gemäß einer aktuellen Studie des Capgemini Research Institute plant ein Großteil der Unternehmen, die Technologie innerhalb von zwei Jahren nach ihrer Einführung zu implementieren.6 Die meisten erhoffen sich dadurch mehr Effizienz in der Produktion und eine größere Unabhängigkeit. Zu diesem Urteil kommt auch eine Befragung von Bitkom, dem Verband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche, bei der 5G als ›Schlüsseltechnologie‹ für die deutsche Industrie angepriesen wird.7 Die weltweiten Ansprüche und Hoffnungen an die neue Technologie sind enorm. Bei BMW ist die Rede von »enormen Effizienzsteigerungen«8. In Großbritannien erhofft man sich durch 5G eine jährliche Steigerung der Wirtschaftsleistung in der Höhe von 15 Milliarden Pfund.9 Die Schweizer FDP will »dank 5G den Fortschritt ermöglichen«, wie es in einer Facebook-Werbeanzeige heißt. »[S]peed up global growth«10, lautet die Hoffnung auf 5G beim World Economic Forum. Big Data, Blockchain, Augmented Reality oder Virtual Reality heißen die damit verknüpften Hoffnungsträger. Von einer Revolution ist an manchen Stellen gar die Rede. Wie all dies konkret umgesetzt werden soll, bleibt allerdings hinter wirkungsstarken Stichworten verborgen. Diese Diskrepanz ist nicht neu. Menschen neigen dazu, Technologien zu überschätzen, die sie nicht verstehen11 – unter dem treffenden Titel »Digitalisierung als Religion« charakterisiert der deutsche Kulturwissenschaftler Robert Feustel die Zuschreibung von übermenschlichen Fähigkeiten, in der sich 5G-ApologetInnen in nichts von ihren esoterischen GegnerInnen unterscheiden.12 So vermischen sich in der hoffnungsvoll erwarteten Implementierung von 5G Voraussagen über abschätzbare Anwendungsmöglichkeiten, die vor allem die Effizienzsteigerung in der Produktion betreffen, mit einer diffusen Hoffnung auf eine wirtschaftlich sorgenfreie Zukunft durch höhere Datengeschwindigkeit und komplikationsfreie Telekommunikation.
»Umstellungen sind natürlich immer schwierig. Das fängt schon im Kopf an«13, meinte der Vodafone-Chef Ametsreiter, als er bei einem seiner Fabrikbesuche einmal mehr auf sein liebstes Thema 5G zu sprechen kam. Der Kopf, auch Ideologie genannt, implementiert, was die Wirtschaft vorgibt. Zugleich folgt die Wirtschaft dem, was der Kopf als beste Strategie empfiehlt. Die etwas andere Antwort auf die Frage, wieso unsere Gesellschaft dem Ruf nach 5G und anderen Beschleunigungstechnologien erliegt, lautet deswegen, dass wir endgültig das Zeitalter der Geschwindigkeit erreicht haben. Die Prämisse, dass Langsamkeit störend wirkt und alles schneller zu gehen hat, hat sich als fetischisierte Grundlage festgesetzt. Diesem Primat ordnen wir uns unter, ohne zu viele Gedanken über Folgen und Nebenwirkungen zu verschwenden. Wir erleben eine aufkommende Hegemonie der Geschwindigkeit, in der das Rennen um das Höchsttempo zur Grundlage einer staatlichen, wirtschaftlichen wie persönlichen Handlungsmaxime wird. Technologische Erneuerung und Ideologie gehen dabei Hand in Hand. So gehören geschwindigkeitseuphorische Visionen zu den leitenden Versprechen unserer Zeit. Sie bewirken Investitionen, Hoffnungen und Forschungsinteressen zugleich.
Was heute versprochen wird, wird morgen nur selten eingehalten. Doch die kulturpessimistische Betrachtung, dass zwischen Anspruch und Realität eine Lücke klafft, ist nicht neu. Kein Tag vergeht, an dem sich niemand lautstark darüber beklagt, dass es um uns herum viel zu schnell zu- und hergeht und wir diese Entwicklung nicht mehr aufhalten können – es sei denn, wir begeben uns, wie Ferienprospekte immer wieder empfehlen, an kommodifizierte – das heißt: zur Ware gewordene – Orte der Entschleunigung, an denen wir uns von unseren Eilkrankheiten erholen. Auch wissenschaftlich hat man sich in den letzten Jahren dem Zustand der Beschleunigung genähert. Hartmut Rosa als bekanntester deutschsprachiger Beschleunigungsforscher hat in den letzten fünfzehn Jahren drei Bücher sowie zahlreiche kritische Artikel und Interviews veröffentlicht, in denen er systematisch die Prozesse der sozialen Beschleunigung und Entfremdung beschreibt.14 Beschleunigung, so seine leitende These, ist sowohl zentrales Merkmal wie auch leitendes Versprechen der Moderne. Dabei unterscheidet er zwischen einer technischen Beschleunigung, einer Beschleunigung des sozialen Wandels und einer Beschleunigung des Lebenstempos, die sich jedoch allesamt als Strukturen gegenseitig bedingen und verstärken. Neben Rosa entstanden vor allem im englischsprachigen