Politik der Geschwindigkeit. Jonas Frick

Politik der Geschwindigkeit - Jonas Frick


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zur Stabilisierung der sozialen Verhältnisse, also eine bestimmte soziale Ordnung der unterschiedlichen Lebenssphären. ›Regulieren‹ bedeutet diesbezüglich, wie es in einer regulationstheoretischen Untersuchung zu Frankreich zusammengefasst wird, eine »Kombination von Formen der Anpassung von Erwartungen und widersprüchlichen Verhaltensweisen individueller Akteure an die kollektiven Prinzipien des Akkumulationsregimes«23. Es geht im Folgenden nicht darum, die Frage zu eröffnen, ob tatsächlich ein neues Akkumulationsregime eingetreten ist. Hierfür fehlt die tiefere ökonomische Untersuchung. Von Interesse ist auch weniger die Analyse einzelner Phänomene oder Ereignisse der Geschwindigkeit, sondern vielmehr die in die Zukunft gerichtete kulturanalytische Frage, ob es einen Wandel gibt, der staatliches wie individuelles Handeln prägt und in Alltagspraktiken sowie kulturellen Produkten sichtbar wird. Wie allerdings kann etwas sichtbar werden, das heute erst an seinem Anfang steht? Es geht im Folgenden nicht um ein detailgetreues Abbild der Zukunft. Doch bestehende Ideen, Phänomene oder Narrative können entlang einer einfachen Grundannahme zu Ende gedacht und analysiert werden: Wer die Dynamiken des 21. Jahrhunderts verstehen will, muss die Geschwindigkeit verstehen. Wer Geschwindigkeit verstehen will, muss sie als gesellschaftliches Verhältnis lesen. Wer dieses überwinden will, muss die Geschwindigkeit politisieren.

      DROMOLOGIE UND DROMOKRATIE

      Die Dromokratie ist die Herrschaft des Schnelleren. Wer über eine größere Geschwindigkeit verfügt, besitzt einen politischen wie finanziellen Vorteil. Entsprechend einig sind sich Industrie und Staat in den führenden Nationen, dass man der technologischen Entwicklung nicht hinterherhinken darf, sondern sie möglichst führend umsetzen muss. Der Staat wird zum Geschwindigkeitsmanager. Als präfigurierender Taktgeber der dromokratischen Geschwindigkeit tritt der Hochfrequenzhandel auf. Während sowohl der computerunterstützte als auch der computergenerierte Börsenhandel die Geschwindigkeit postfordistischer Finanzmärkte bereits rasant beschleunigten, ist seit einem Jahrzehnt eine neue qualitative Steigerung zu beobachten. Der Hochfrequenzhandel nimmt vorweg, worum es bei der Herrschaft des Schnelleren zukünftig gehen wird: Das Rennen um Echtzeit wird zum kostenintensiven Begleiter unternehmerischen als auch persönlichen Handelns. Sichtbar wird dies in der zeitgenössischen Unternehmerphilosophie. Jeff Bezos’ Wunsch, dass Amazon immer am ›Day 1‹ stehen bleibt, spiegelt den Drang nach Echtzeit, vergleichbar mit dem Wunsch verschiedener MillionärInnen, den menschlichen Alterungsprozess aufzuheben, um auch körperlich in der ewigen Gegenwart aufzugehen.

      Die Dromokratie definiert unsere Ansprüche und funktioniert als umfassender ideologischer Reproduktionsmechanismus. Niemand geht davon aus, dass ein bei Amazon Prime bestellter und innerhalb eines Tages gelieferter Massenartikel die gleiche Qualität besitzt wie ein sorgfältig ausgewähltes Produkt. Doch Geschwindigkeit selbst wird zum neuen Qualitätsmerkmal, und den Artikel, den ich jetzt haben will, kann ich notfalls morgen in besserer Version erneut kaufen. Die temporale Ordnung der Konsumation und die Just-in-Time Delivery folgen auf die postfordistische Just-in-Time Production. Das leitende Gebrauchswertversprechen ist nunmehr die Gegenwart. Ein Ergebnis hiervon sind noch schnellere Umschlagszeiten, ein anderes ist der Verlust jeglicher Zeitsouveränität.

      Die Fahrgesellschaft konkretisiert sich in der Aufhebung selbständiger Bewegung. Jeder Schritt zu Fuß ist einer zu viel. So gehört die Kommodifizierung der letzten Meile zur ersten Aufgabe der Dromokratie. Doch auch in größerem Maßstab werden wieder Verkehrsvisionen ausgegraben. Dazu gehören autonome Fahrzeuge, der anvisierte Warentransport unter der Erde oder rasante Züge auf Hyperloops, dank dem die fast schon vergessene – das heißt: neoliberal vernachlässigte und kaputtgesparte – Bahn plötzlich wieder interessant für staatliche Investitionen wird.

      Die Dromokratie ist eine Jagdgesellschaft. Den Wettkampf um die größtmögliche Geschwindigkeit kennen Jäger wie Gejagte. Die treibende Kraft ist dabei ein allgegenwärtiger Synchronisationsdruck, der den Menschen und der Umwelt eine Höchstgeschwindigkeit aufzwingt. Synchronisation ist allerdings bei Weitem nicht immer erfolgreich. Anpassungen führen im besten Falle zu Reibungen und Wartezeiten, in anderen Fällen aber zu umfassenden gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen. Es entstehen Desynchronisationsprozesse, die zugleich Ausschluss bedeuten und produktive, sich vom universalisierten Rhythmus unterscheidende Beschleunigungserfahrungen und internalisierte Temporalitäten hervorrufen.

      Als Jagdgesellschaft ist die Dromokratie im Wesentlichen eine Klassengesellschaft. Der Drang zur kinetischen Utopie bringt eine kinetische Elite sowie ausgeschlossene und verlangsamte Menschen hervor. Auf der einen Seite steht jene bourgeoise Gruppe, die in Hochgeschwindigkeit und grenzenlos um die Welt jettet, auf der anderen Seite stehen jene proletarisierten Schichten, die zur Immobilität gezwungen werden, sei es, indem sie die outgesourcte Arbeit in ihren Heimatländern übernehmen, indem sie an der Migration gehindert werden, oder indem sie in Terrordatenbanken erscheinen, die ihnen die problemlose Grenzüberquerung verunmöglichen.

      Eine emanzipatorische Bewegung kämpft für die Politisierung der Geschwindigkeit. Die Dromokratie ist nicht mehr aufzuhalten. Der einzige Weg zur Selbstbestimmung liegt in der Politisierung der Geschwindigkeit und ihrer Zeiterfahrungen – dies bedingt das Wissen um die Historizität kapitalistischer Strukturen und Widersprüche. Diesem Wissen enthalten ist die Überzeugung, dass eine Perspektive jenseits rationalisierender leerer Zeit und chronopolitischer Machtmechanismen


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