Politik der Geschwindigkeit. Jonas Frick

Politik der Geschwindigkeit - Jonas Frick


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Geschwindigkeit beziehungsweise deren Bedeutung. 2003 beschrieb beispielsweise Teresa Brennan in Globalization and Its Terrors: Daily Life in the West, wie ein sich steigerndes Lebens- und Wirtschaftstempo zu Umweltzerstörung und Gesundheitsproblemen führe. Die Befunde scheinen zutreffend; dass es sich dabei allerdings um eine quasi natürliche ›organische Zeit‹ als anthropologische Konstante handelt, die mehr und mehr angegriffen wird und dadurch Stresssymptome verursacht, wurde später unter anderem von John Tomlinson angezweifelt.15 Dieser veröffentlichte 2007 mit The Culture of Speed selbst ein Werk darüber, wie Geschwindigkeit die kulturelle Imagination unserer Gesellschaften prägt. Dass sowohl Brennan als auch Tomlinson Geschwindigkeit eng mit der Zeit verknüpfen, ist kein Zufall. Geschwindigkeit wird nicht nur in ihrer physikalischen Definition über Zeitphänomene erfahren. Beispielsweise führen Beschleunigungen im Transportbereich zu kürzeren Transportzeiten, die Steigerung des Lebenstempos kann zu Zeitdruck führen, die Beschleunigung der sozialen Medien bringt verkürzte Halbwertszeiten von Beiträgen mit sich, die Arbeitsgeschwindigkeit konfiguriert den Tagesrhythmus usw. Auch andere AutorInnen gehen von solchen Verbindungen aus. 2007 erschien mit 24/7: Time and Temporality in the Network Society beispielsweise ein Sammelband mit Fragestellungen zum Thema Zeit und Beschleunigung. Die leitende These darin lautet: Abseits der Uhrzeit hat sich mit der Digitalisierung und ihrer Datengeschwindigkeit eine Netzwerkzeit entwickelt, die eine ganz eigene Charakteristik besitzt. Ein Jahr später veröffentlichten Howard Rosenberg und Charles S. Feldman mit No Time To Think einen Essay über die Probleme beschleunigter Medienarbeit und den Verlust medialer Zeitsouveränität im sich etablierenden 24/7-Rhythmus. 2014 forderte Sarah Sharma in In the Meantime in kritischer Ergänzung zu bisherigen Analysen dazu auf, in mikropolitischen Prozessen genauer hinzuschauen, da unterschiedliche Temporalitäten unterschiedlichen Geschwindigkeitsvorgaben erliegen. Dies fand nur bedingt Gehör. 2015 erschienen mit Pressed for Time: The Acceleration of Life in Digital Capitalism von Judy Wajcman, das sich mit empirischen Studien zur Digitalisierung auseinandersetzt, und John Robert McNeills The Great Acceleration, das die Beschleunigung von Umweltzerstörung und Naturveränderungen thematisiert, weitere Werke, die mit ihrem jeweils eigenen Befund einer allgemeinen Beschleunigung Aufmerksamkeit erregten. Vor allem im US-amerikanischen Raum gehört es zu den beliebten rhetorischen Stilmitteln, Diagnosen möglichst überspitzt zu formulieren. Ob tatsächlich, wie Ben Agger es in einem Aufsatz tut, von einem »Time Fascism«16 gesprochen werden sollte, verstanden als Erfahrung, vom herrschenden Zeitdruck zerquetscht zu werden, darf angezweifelt werden. Trotz solcher Befunde hat auch Agger Wesentliches zur Erforschung der Geschwindigkeit und zu den damit verbundenen Phänomenen beigetragen. Das Magazin Fast Capitalism, benannt nach einem seiner Werke bzw. Begriffe17, macht es sich beispielsweise seit 2005 zur Aufgabe, das titelgebende Thema regelmäßig zu beleuchten. Dem auch im vorliegenden Essay folgenden Anspruch, dass »Geschwindigkeit soziale Praktiken formt« und »Sozialwissenschaften die Macht der Bewegung als fundamentale Kraft im Alltag« berücksichtigen müssen, da »der Einfluss [von Geschwindigkeit und Beschleunigung] auf Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft bisher noch nicht vollständig erfasst wurde«18, konnte das Magazin allerdings nur im ersten Heft gerecht werden.


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