Lange Schatten. Louise Penny

Lange Schatten - Louise Penny


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starrte das Paar, das die Treppe heraufkam, mit offenem Mund an.

      »Clara, das ist phantastisch«, sagte Reine-Marie und umarmte ihre Freundin. Joy von Jean Patou stieg Clara in die Nase und löste die gleiche Empfindung in ihr aus. Es kam ihr vor, als hätte man sie im letzten Moment aus den Klauen eines Folterknechts gerettet. Sie trat einen Schritt zurück und sah Reine-Marie Gamache prüfend an, um sicherzugehen. Nein, es gab keinen Zweifel, sie stand tatsächlich vor ihr und lächelte. Clara spürte die Blicke in ihrem Rücken, aber es war ihr egal. Jetzt spielte es keine Rolle mehr.

      Dann küsste Armand sie auf beide Wangen und drückte ihren Arm. »Wir freuen uns sehr für Sie. Und für Denis Fortin.« Er blickte der Reihe nach in die versteinerten Mienen. »Fortin ist der führende Kunsthändler in Montréal, aber das wissen Sie wahrscheinlich. Besser kann man es nicht treffen.«

      »Tatsächlich?« Peters Mutter schaffte es, gleichzeitig desinteressiert und missbilligend zu klingen. Als wäre Claras Erfolg etwas Ungehöriges. Auf jeden Fall war diese Zurschaustellung von Gefühlen, diese Begeisterung, ungehörig. Sie hatten hier ein Familientreffen, das dadurch rücksichtslos gestört wurde. Und, was vielleicht noch schlimmer war, es war ein unmissverständlicher Beweis dafür, dass Peter sich mit den Leuten aus den billigen Zimmern abgab. Es war die eine Sache, Bridge mit ihnen zu spielen, wenn man zusammen in einem fernab jeglicher Zivilisation gelegenen Hotel festsaß. Das fiel einfach unter gute Erziehung. Aber es war etwas ganz anderes, eigens ihre Gesellschaft zu suchen.

      Gamache ging zu Peter und schüttelte ihm die Hand. »Hallo, Peter, schön, Sie zu sehen.«

      Gamache lächelte, während Peter ihn anstarrte, als hätte er eine Geistererscheinung.

      »Armand? Was in aller Welt machen Sie denn hier?«

      »Na ja, das ist ein Hotel.« Gamache lachte. »Wir sind hier, um unseren Hochzeitstag zu feiern.«

      »Gott sei Dank«, sagte Clara und trat zu Reine-Marie. Peter machte Anstalten, es ihr gleichzutun, als ihn ein leises Räuspern hinter ihm innehalten ließ.

      »Wir können uns ja später noch unterhalten«, schlug Reine-Marie vor. »Sie wollen sicher erst einmal ein bisschen Zeit mit Ihrer reizenden Familie verbringen.« Sie umarmte Clara noch einmal rasch. Clara ließ sie nur widerstrebend wieder los, dann sah sie den Gamaches hinterher, wie sie hinunter zum See schlenderten. Plötzlich spürte sie, dass ihr der Schweiß über den Hals lief. Als sie ihn abwischen wollte, stellte sie erstaunt fest, dass sie Blut an den Fingern hatte.

      6

      Nach dem Mittagessen, das sich eine halbe Ewigkeit hin- zog, wollte sich Clara umgehend auf die Suche nach den Gamaches machen.

      »Ich glaube, Mutter wäre es lieber, wenn wir hierbleiben.« Peter blieb unschlüssig auf der Terrasse stehen.

      »Jetzt komm schon.« Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu und streckte die Hand aus. »Wer wagt, gewinnt.«

      »Aber es ist doch ein Familientreffen.« Peter wäre nur zu gerne mit ihr gegangen, hätte ihre Hand genommen, wäre mit ihr über den perfekt getrimmten Rasen gelaufen und hätte nach den Freunden gesucht. Während des Mittagessens, als die Familie entweder schweigend aß oder über die Entwicklung auf dem Aktienmarkt diskutierte, hatten sich Peter und Clara in aufgeregtem Flüsterton über die Gamaches unterhalten.

      »Du hättest dein Gesicht sehen sollen«, sagte Peter und bemühte sich, leise zu sprechen. »Du hast ausgesehen wie Dorothy, als sie dem mächtigen Zauberer von Oz gegenübersteht. Völlig verdattert.«

      »Ich glaube, du verbringst zu viel Zeit mit Olivier und Gabri«, erwiderte Clara und lächelte. Sie hatte noch nie bei einem Familientreffen gelächelt. Merkwürdiges Gefühl. »Abgesehen davon hast du genauso ausgesehen, total perplex. Aber es ist doch wirklich kaum zu fassen, dass die Gamaches hier sind, oder? Meinst du, wir können uns heute Nachmittag wegschleichen und sie treffen?«

      »Warum nicht?«, flüsterte Peter hinter einem warmen Brötchen hervor. Die Aussicht, ein paar Stunden mit ihren Freunden zu verbringen, statt seine Familie ertragen zu müssen, war ungemein verlockend.

      Clara hatte auf ihre Uhr gesehen. Zwei. Noch zwanzig Stunden. Wenn sie um elf ins Bett ging und morgen früh um neun aufwachte, dann blieben nur noch – sie versuchte es im Kopf auszurechnen – elf Stunden, die sie im Wachzustand mit Peters Familie zusammen sein musste. Das würde sie irgendwie schaffen. Davon noch zwei Stunden mit den Gamaches abgezogen, blieben neun. Lieber Gott, das Ende war ja praktisch bereits in Sicht. Dann konnten sie in ihr kleines Dorf zurückkehren, bis nächstes Jahr wieder eine Einladung eintrudelte.

       Bloß nicht daran denken.

      Doch in diesem Moment blieb Peter zögernd auf der Terrasse stehen, wie sie es eigentlich schon vorausgesehen hatte. Schon beim Mittagessen hatte sie gewusst, dass er es nicht fertigbringen würde. Trotzdem hatte es Spaß gemacht, so zu tun als ob. Es war, als würde man sich innerlich verkleiden. So tun, als gehöre man dieses eine Mal zu den Mutigen.

      Aber letzten Endes brachte er es natürlich nicht über sich. Und Clara konnte ihn nicht allein lassen. Deshalb ging sie langsam zurück ins Haus.

      »Warum hast du deiner Familie von meiner Ausstellung erzählt?«, fragte sie und überlegte, ob sie gerade versuchte, einen Streit vom Zaun zu brechen. Um Peter dafür zu bestrafen, dass er sie beide zwang hierzubleiben.

      »Ich fand, sie sollten es wissen. Sie tun immer so, als würde deine Arbeit nichts gelten.«

      »Du doch auch.« Clara war sauer.

      »Wie kannst du so etwas sagen!« Er wirkte verletzt, und ihr war klar, dass sie das nur gesagt hatte, um ihm wehzutun. Sie wartete darauf, dass er mit dem Argument kam, er hätte sie all die Jahre unterstützt. Er hätte dafür gesorgt, dass sie ein Dach über dem Kopf hatten und dass etwas zu essen auf dem Tisch stand. Aber er schwieg, was sie nur noch mehr ärgerte.

      Als er sich zu ihr umdrehte, entdeckte sie einen Klecks Schlagsahne auf seiner Wange, der aussah wie ein großer Pickel. Es hätte genauso gut ein Flugzeug sein können, so merkwürdig war es, an ihrem Mann etwas zu sehen, das nicht dorthin gehörte. Er sah immer gepflegt aus, immer ordentlich. Seine Sachen waren nie zerknittert, seine Bügelfalten messerscharf, nie war da ein Fleck oder ein fehlender Knopf. Wie hieß dieses Dings bei Star Trek? Traktorstrahl? Nein, nicht das. Der Schutzschild. Peter ging mit einem aktivierten Schutzschild durchs Leben, der jeden Angriff durch Essen, Getränke oder Menschen abschmetterte. Clara fragte sich, ob es in seinem Kopf eine Stimme gab, die genau in diesem Moment mit schottischem Akzent rief: »Capt’n, der Schutzschild ist ausgefallen. Ich kann ihn nicht aktivieren.«

      Peter, der liebe, gute Peter, bekam von dem kleinen, außerirdischen weißen Etwas in seinem Gesicht jedoch nichts mit.

      Sie wusste, dass sie etwas sagen oder es wenigstens wegwischen sollte, aber sie hatte die Nase voll.

      »Was ist?«, fragte Peter und sah gleichzeitig besorgt und ein bisschen ängstlich aus. Auseinandersetzungen machten ihn immer völlig hilflos.

      »Du hast deiner Familie das mit Fortin erzählt, um sie zu ärgern. Vor allem Thomas. Es hatte nichts mit mir zu tun. Du hast meine Arbeit als Waffe benutzt.«

       Capt’n, sie bricht auseinander.

      »Wie kannst du so etwas nur sagen?«

      Aber er klang unsicher, und auch das war sie nicht gewohnt.

      »Bitte sprich mit ihnen nicht mehr über meine Arbeit. Besser gesagt, sprich über nichts, was mich angeht, mit ihnen. Es interessiert sie nicht, und mir tut es nur weh. Das sollte es vermutlich nicht, ist aber so. Wäre das möglich?«

      Sie bemerkte, dass seine Hosentasche immer noch nach außen hing. Es gab wenig, was sie an ihm jemals so beunruhigt hatte.

      »Es tut mir leid«, sagte er schließlich. »Aber das hatte nichts mit Thomas zu tun. Nicht mehr. Ich glaube, ich habe mich mittlerweile an ihn gewöhnt. Es war wegen Julia. Das Wiedersehen mit ihr hat mich irgendwie aus dem


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