Lange Schatten. Louise Penny

Lange Schatten - Louise Penny


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      »Du aber auch.«

      Schweigen.

      »Angenehmes Wetter«, sagte er.

      Julia zermarterte sich das Hirn nach einer klugen Bemerkung, irgendetwas, das geistreich und intelligent war. Etwas, das bewies, dass sie glücklich war. Dass ihr Leben nicht der Scherbenhaufen war, für den er es hielt. Im Stillen sagte sie sich ein paarmal Peters praller pinker Pickel platzt vor. Das half.

      »Wie geht es David?«, fragte Peter.

      »Ach, du kennst ihn ja«, antwortete Julia leichthin. »Er kommt mit jeder Situation zurecht.«

      »Sogar damit, im Gefängnis zu sitzen? Aber du bist ja da.«

      Sie musterte sein ausdrucksloses, hübsches Gesicht. War das eine Beleidigung? Sie war schon so lange nicht mehr mit ihrer Familie zusammen gewesen, dass sie ganz aus der Übung war. Sie kam sich vor wie eine pensionierte Fallschirmspringerin, die ohne Vorwarnung aus einem Flugzeug geschubst wurde.

      Vor vier Tagen war sie am Ende ihrer Kräfte hier angekommen. Das vergangene Jahr war eine einzige Katastrophe gewesen, und Davids Prozess hatte das letzte Lächeln, die letzte nichtssagende Nettigkeit, die letzte Höflichkeitsfloskel aus ihr herausgequetscht. Mit dem Gefühl, betrogen, gedemütigt und bloßgestellt worden zu sein, war sie hierhergekommen, um ihre Wunden zu lecken. Zu der fürsorglichen Mutter und den großen, stattlichen Brüdern einer verklärten Erinnerung. Ganz bestimmt würden sie sich um sie kümmern.

      Irgendwie hatte in ihrem Gedächtnis eine Lücke geklafft, warum sie diese Familie damals verlassen hatte. Jetzt war sie wieder mit ihr vereint, und die Erinnerung kehrte zurück.

      »Das muss man sich mal vorstellen«, sagte Thomas, »da stiehlt dein Mann so viel Geld, und du hast keine Ahnung. Es muss entsetzlich gewesen sein.«

      »Thomas«, sagte seine Mutter und schüttelte den Kopf. Der Tadel galt jedoch keineswegs der Beleidigung selbst, sondern dem Umstand, dass er sie vor dem Personal ausgesprochen hatte. Julia meinte, die glühenden Steine unter ihren Füßen zischen zu hören. Aber sie lächelte und ließ sich nichts anmerken.

      »Dein Vater«, begann Mrs. Finney, hielt dann jedoch inne.

      »Sprich doch weiter, Mutter«, sagte Julia und spürte, wie sich tief in ihrem Inneren eine altvertraute Kreatur zu regen begann. Wie sie aus jahrzehntelangem Schlaf erwachte. »Mein Vater?«

      »Nun ja, du weißt, wie er dazu stand.«

      »Nein, wie stand er denn dazu und wozu eigentlich?«

      »Wirklich, Julia, das ist jetzt nicht das geeignete Gesprächsthema.« Ihre Mutter wandte ihr das rosige Gesicht zu. Ein sanftes Lächeln begleitete ihre Worte, eine zierliche Geste der Hände. Wie lange war es her, dass sie die Hände ihrer Mutter gespürt hatte?

      »Tut mir leid«, sagte Julia.

      »Spring, Bean, spring!«

      Clara drehte sich um und sah Peters jüngste Schwester so leichtfüßig über den sorgfältig gestutzten Rasen hüpfen, dass ihre Füße kaum den Boden berührten. Bean rannte hinter ihr her. Das Kind hatte sich ein Badetuch um den Hals geknotet und lachte. Aber es sprang nicht. Typisch Bean, dachte Clara.

      »Uff«, stieß Mariana aus, als sie wenig später die Terrasse betrat. Das Wasser lief an ihr herunter, als wäre sie durch eine Sprinkleranlage gelaufen. Sie nahm ein Ende ihres Schals und wischte sich damit über die Augen. »Ist Bean gesprungen?«, fragte sie ihre Familie. Niemand reagierte außer Thomas, der spöttisch grinste.

      Bei der Hitze begann Claras BH zu kneifen. Sie zog ihn zurecht. Zu spät hob sie den Kopf. Peters Mutter beobachtete sie schon wieder, gerade so, als wäre sie mit einem speziell auf Clara eingestellten Bewegungsmelder ausgestattet.

      »Was macht die Kunst?«

      Die Frage überraschte Clara. Im ersten Augenblick dachte sie, sie würde Peter gelten, und fing an, die an ihrer Brust klebenden Tomatenkerne abzupulen.

      »Meinst du mich?« Sie hob den Kopf und sah Julia an. Die Schwester, die sie am wenigsten kannte. Aber sie kannte die Geschichten, die Peter ihr erzählt hatte, und war auf der Hut. »Ach, na ja, du weißt ja. Es ist ein ewiger Kampf.«

      Mit dieser Antwort machte sie es sich leicht, sie erwarteten sie. Clara, die Versagerin, die sich selbst als Künstlerin bezeichnete, aber nie etwas verkaufte. Die lächerliche Bilder von schmelzenden Bäumen malte und Figuren mit toupierten Haaren zusammenbastelte.

      »Ich habe von deiner letzten Ausstellung gehört. Ziemlich beeindruckend.«

      Clara richtete sich auf. Natürlich, die meisten Leute waren höflich genug, sich oberflächlich nach ihrer Arbeit zu erkundigen, aber dass jemand das Thema vertiefen wollte, kam selten vor.

      Vielleicht meinte Julia es ja ehrlich.

      »Kriegerinnen und ihre Uteri richtig?«, sagte Julia. Clara suchte in ihrem Gesicht nach einem Hinweis darauf, dass sie sich über sie lustig machte, konnte jedoch keinen entdecken.

      Clara nickte. Zugegeben, nach wirtschaftlichen Maßstäben konnte man diese Serie nicht gerade als gewinnbringend bezeichnen, aber für ihr Selbstwertgefühl war sie ein voller Erfolg gewesen. Sie hatte daran gedacht, Peters Mutter eine der Uterus-Kriegerinnen zu Weihnachten zu schenken, war dann aber zu dem Schluss gekommen, dass sie damit vermutlich einen Schritt zu weit gehen würde.

      »Haben wir euch das nicht erzählt?« Peter gesellte sich mit einem Lächeln auf dem Gesicht zu ihnen. Das war bei einem Familientreffen nie ein gutes Zeichen. Je mehr sie lächelten, desto unaufrichtiger waren sie. Clara versuchte, seinen Blick aufzufangen.

      »Was erzählt?«, fragte Sandra in einem Ton, als befürchte sie das Schlimmste.

      »Das von Claras Malerei.«

      »Ich hätte gern noch ein Bier«, sagte Clara. Keiner achtete auf sie.

      »Was ist damit?«, fragte Thomas.

      »Nichts«, sagte Clara. »Nur Quatsch. Ihr kennt mich doch. Hier mal was probieren, da mal was probieren.«

      »Ein Galerist ist an sie herangetreten.«

      »Peter«, sagte Clara scharf. »Ich glaube nicht, dass wir das hier erörtern müssen.«

      »Aber ich bin sicher, dass es sie interessiert«, sagte Peter. Er zog die Hand aus der Hosentasche und stülpte dabei das Futter nach außen, was nicht ganz zu seiner gepflegten Erscheinung passen wollte.

      »Clara ist zu bescheiden. Die Galerie Fortin in Montréal plant eine Einzelausstellung mit ihr. Denis Fortin ist höchstpersönlich nach Three Pines gekommen, um sich ihre Arbeiten anzusehen.«

      Schweigen.

      Clara grub die Fingernägel in ihre Handflächen. Eine Bremse entdeckte die zarte blasse Haut hinter ihrem Ohr und stach zu.

      »Wunderbar«, sagte Peters Mutter zu Clara. »Ich bin begeistert.«

      Clara drehte sich überrascht zu ihrer Schwiegermutter um. Sie glaubte sich verhört zu haben. War sie in ihrem Urteil all die Jahre zu hart gewesen? Ungerecht gegenüber Peters Mutter?

      »Meistens sind sie zu dick.«

      Claras Lächeln begann zu verschwinden. Zu dick?

      »Und nicht mit echter Mayonnaise. Aber Véronique hat sich wieder einmal selbst übertroffen. Hast du die Gurkensandwiches schon probiert, Claire? Sie sind wirklich ausgezeichnet.«

      »Ja, sie sind echt toll«, stimmte Clara zu, als handele es sich um eine außergewöhnliche Delikatesse.

      »Meinen Glückwunsch, Clara. Was für großartige Neuigkeiten.« Eine männliche Stimme, tief und freundlich und irgendwie vertraut. »Félicitations.«

      Mit großen Schritten kam ein kräftiger Mann mittleren Alters und mit einem komischen Hut auf dem Kopf auf sie zu. Neben ihm ging eine elegante, kleine Frau, die zum Schutz vor der Sonne den gleichen


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