Lange Schatten. Louise Penny
Finneys war.
»Das verlorene Paradies«, murmelte er.
»Pardon?«
»Nichts, ich habe nur laut gedacht.«
»Haben Sie überlegt, ob es besser ist, in der Hölle zu herrschen oder im Himmel zu dienen?«, fragte Julia mit einem Lächeln. Er lachte. So wie ihrer Mutter entging auch ihr nichts, selbst ein Milton-Zitat nicht. »Denn darauf wüsste ich die Antwort. Da ist ja die Eleanor«, sagte sie und deutete auf eine leuchtend rosa Rose in dem Strauß. »Wie schön.«
»Irgendjemand hat heute Abend schon einmal von dieser Rose gesprochen«, erinnerte sich Gamache.
»Thomas.«
»Stimmt. Er wollte wissen, ob Sie eine im Garten gefunden haben.«
»Das ist ein kleiner Witz zwischen uns Geschwistern. Sie ist nach Eleanor Roosevelt benannt, wie Sie vielleicht wissen.«
»Nein, das wusste ich nicht.«
»Ja«, sagte Julia, betrachtete gedankenverloren die Rose und nickte. »Sie hat erklärt, dass sie zuerst sehr geschmeichelt gewesen sei, bis sie die Beschreibung im Katalog gelesen habe. Die Rose Eleanor Roosevelt: kräftige Triebentwicklung, robust und handfest.«
Sie lachten, und Gamache sprach der Rose und dem Zitat sein Kompliment aus, fragte sich aber, was es mit Julia zu tun hatte.
»Noch jemand Kaffee?«
Julia zuckte zusammen.
Pierre stand mit einer silbernen Kaffeekanne in der Tür. Er hatte die Frage zwar an alle Anwesenden gerichtet, sah dabei aber Julia an und errötete auch noch leicht. Am anderen Ende des Raums murmelte Mariana: »Da haben wir es mal wieder.« Jedes Mal, wenn der Maître d’ im selben Zimmer wie Julia war, errötete er. Sie kannte das. Sie hatte von frühester Jugend an damit gelebt. Mariana war das nette Mädchen von nebenan. Diejenige, mit der man im Auto knutschen und herumfummeln konnte. Aber Julia war diejenige, die alle heiraten wollten, selbst der Maître d’.
Während Mariana ihre Schwester beobachtete, merkte sie, dass ihr das Blut ins Gesicht schoss, was allerdings nichts mit dem Maître d’ zu tun hatte. Sie sah zu, wie Pierre den Kaffee einschenkte, und stellte sich dabei vor, wie der riesige gerahmte Krieghoff von der Wand fiel und Julias Kopf zerschmetterte.
»Sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben«, maulte Sandra in Gamaches Richtung, während Thomas ihr Karte um Karte wegstach. Schließlich standen sie vom Tisch auf, und Thomas gesellte sich zu Gamache, der inzwischen die anderen Gemälde in dem Zimmer betrachtete.
»Das ist ein Brigite Normandin, oder?«, fragte Thomas.
»Ja. Phantastisch. Sehr aufregend, sehr modern. Eine gute Ergänzung zu dem Molinari und dem Riopelle. Und sie alle passen ausgezeichnet zu dem Krieghoff.«
»Sie kennen sich gut aus, was?«, fragte Thomas leicht erstaunt.
»Ich interessiere mich sehr für die Geschichte Québecs«, sagte Gamache und deutete auf die Dorfszene.
»Das erklärt allerdings nicht, warum Sie die anderen Bilder kennen, oder?«
»Unterziehen Sie mich hier etwa einer kleinen Prüfung, Monsieur?« Gamache beschloss, sich aus der Defensive zu begeben.
»Vielleicht«, gestand Thomas. »Autodidakten sind selten.«
»Vor allem in Gefangenschaft«, sagte Gamache, und Thomas lachte. Das Gemälde, vor dem sie standen, war zurückhaltend, schlichte Linien in verschiedenen Beigetönen.
»Sieht aus wie eine Wüste«, sagte Gamache. »Öde und verlassen.«
»Ach, das stimmt doch gar nicht«, sagte Thomas.
»Nicht schon wieder!«, sagte Mariana.
»Bitte nicht die Geschichte von der Pflanze«, sagte Julia und wandte sich an Sandra. »Tischt er die immer noch jedem auf?«
»Einmal täglich, so sicher wie das Amen in der Kirche. Nicht hinhören.«
»Nun, Zeit, ins Bett zu gehen«, sagte Madame Finney. Ächzend erhob sich ihr Mann, und die beiden Alten gingen.
»Die Dinge sind anders, als sie scheinen«, sagte Thomas, und Gamache sah ihn überrascht an. »In der Wüste, meine ich. Sie sieht öde und verlassen aus, aber dort ist überall Leben, man sieht es nur nicht. Es verbirgt sich aus Angst, gefressen zu werden. In der südafrikanischen Wüste gibt es eine Familie von Pflanzen, die Lebende Steine genannt werden. Können Sie sich vorstellen, wie sie für das eigene Überleben sorgt?«
»Lass mich überlegen. Indem sie so tut, als sei sie ein Stein?«, fragte Julia. Thomas warf ihr einen wütenden Blick zu, aber sofort glättete sich seine Miene wieder.
»Du hast die Geschichte offenbar nicht vergessen.«
»Ich habe nichts vergessen, Thomas«, sagte Julia und setzte sich. Gamache hörte genau zu. Die Finneys sprachen kaum miteinander, aber wenn sie es taten, dann steckten ihre Worte voller Hintersinn, den er nicht durchschaute.
Thomas zögerte, dann wandte er sich wieder Gamache zu, der sich nach seinem Bett sehnte, vor allem aber danach, dass diese Geschichte ein Ende nahm.
»Sie tun so, als seien sie Steine«, sagte Thomas, und sein Blick bohrte sich in Gamaches Augen. Dieser wurde sich plötzlich bewusst, dass das ganze Gerede nicht belanglos war. Irgendetwas wurde ihm mitgeteilt. Nur was?
»Um überleben zu können, muss sich die Pflanze verstecken. Vorschützen, etwas zu sein, was sie nicht ist«, sagte Thomas.
»Es ist nur eine Pflanze«, sagte Mariana. »Sie tut doch nichts mit Absicht.«
»Unheimlich«, sagte Julia. »Dieser Überlebensinstinkt.«
»Es ist eine Pflanze!«, wiederholte Mariana. »Sei doch nicht dumm.«
Genial, dachte Gamache. Sie wagte nicht, sich so zu zeigen, wie sie war, weil sie dann getötet werden könnte. Was hatte Thomas gerade gesagt?
Die Dinge sind nicht das, was sie scheinen. Langsam fing er an, es zu glauben.
4
»Was für ein schöner Abend«, sagte Reine-Marie und schlüpfte neben ihrem Mann zwischen die kühlen, glatten Laken.
»Ja, das fand ich auch.« Er nahm seine Lesebrille ab und legte sein Buch aufgeklappt aufs Bett. Es war warm. Ihr winziges Hinterzimmer hatte nur ein Fenster, das zum Küchengarten hinaussah, das heißt, man konnte keinen Durchzug machen, aber sie hatten es weit aufgerissen, und die Musselinvorhänge bauschten sich in einer leichten Brise. Abgesehen von dem Licht ihrer Nachttischlampen, lag der Raum im Dunkeln. Es roch nach dem Holz der Wände und frischer Kiefer aus dem Wald, und vom Kräutergarten her wehte ein zarter, süßlicher Geruch zu ihnen herein.
»Noch zwei Tage, dann ist unser Hochzeitstag«, sagte Reine-Marie. »Der erste Juli. Denk nur, fünfunddreißig Jahre. Wie jung wir waren.«
»Ich vor allem. Und unschuldig.«
»Armer Junge. Habe ich dir große Angst eingejagt?«
»Ein bisschen vielleicht. Aber inzwischen habe ich sie überwunden.«
Reine-Marie lehnte sich gegen ihr Kissen. »Ich kann nicht sagen, dass ich mich darauf freue, morgen den Rest der Finneys kennenzulernen.«
»Spot und Claire. Spot muss ein Spitzname sein.«
»Hoffen wir mal.«
Er nahm erneut sein Buch und versuchte zu lesen, aber die Lider wurden ihm schwer und fielen ständig zu, mochte er auch noch so sehr dagegen ankämpfen. Als ihm klar wurde, dass das ein Kampf war, den er weder gewinnen konnte noch musste, gab er auf. Er küsste Reine-Marie, ließ seinen Kopf auf das Kissen sinken und fiel zu dem Chor der Nachttiere draußen und dem Duft seiner Frau neben ihm in Schlaf.
Pierre Patenaude stand an der Tür zur Küche. Sie war sauber und aufgeräumt, alles