Lange Schatten. Louise Penny
Sie wandte sich ihm mit großen Augen zu. »Meinen Sie?«
Er hatte es aus reiner Höflichkeit gesagt. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie die Finneys zueinander standen.
Sie sah, dass er zögerte, und lachte erneut. »Verzeihen Sie mir, Monsieur. Jeden Tag, den ich mit meiner Familie verbringe, regrediere ich um zehn Jahre. Mittlerweile fühle ich mich wie ein linkischer, unsicherer Teenager. Heimlich zum Rauchen in den Garten zu verschwinden! Sie eigentlich auch?«
»Im Garten rauchen? Nein, das mache ich schon seit vielen Jahren nicht mehr. Ich wollte mir nur die Beine vertreten.«
»Passen Sie bloß auf. Wir wollen doch nicht, dass Ihnen etwas zustößt.« Sie schien ein wenig mit ihm zu flirten.
»Ich passe immer auf, Madame Martin«, sagte Gamache, ohne darauf einzugehen. Er vermutete, dass das ihrem normalen Umgangston entsprach und sie eigentlich nichts weiter damit im Sinn hatte. Er hatte sie nun schon seit einigen Tagen beobachtet, und sie redete mit allen so, Männern wie Frauen, Fremden wie Verwandten, Hunden, Eichhörnchen, Kolibris. Kokett, nett.
Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung. Er hatte den Eindruck, etwas Weißes wäre vorbeigezischt, und einen Moment lang setzte sein Herzschlag aus. War das Marmording zum Leben erwacht? Kam es etwa vom Waldrand auf sie zu? Er drehte sich um und sah auf der Terrasse eine Gestalt im Schatten verschwinden. Im nächsten Moment tauchte sie wieder auf.
»Elliott«, rief Julia Martin, »wie schön. Sie bringen mir sicher meinen Brandy und Bénédictine, oder?«
»Ja, Madame.« Der junge Kellner lächelte, als er das Glas von dem Silbertablett nahm und ihr reichte. Dann wandte er sich an Gamache. »Und für Monsieur? Darf ich Ihnen auch etwas bringen?«
Er sah so jung aus, so unbedarft.
Und doch wusste Gamache, dass der junge Mann an der Ecke des Hauses gestanden und sie beobachtet hatte. Warum?
Dann musste er über sich selbst lachen. Er sah Dinge, die nicht da waren, hörte Worte, die nicht gesprochen wurden. Eigentlich war er ins Manoir Bellechasse gekommen, um genau das abzustellen, er wollte sich entspannen und nicht mehr jeden Flecken auf dem Teppich verdächtig finden und überall Messer blitzen sehen. Nicht mehr die versteckten Gemeinheiten wahrnehmen, die sich im Gewand ganz normaler Worte in ein Gespräch schleichen konnten. Und die Empfindungen, die glatt gestrichen, gefaltet und in etwas anderes verwandelt wurden, wie eine Art Gefühlsorigami. Es sah hübsch aus, aber dahinter verbarg sich oft etwas ganz und gar Abstoßendes.
Es war schlimm genug, dass er sich angewöhnt hatte zu überlegen, ob die älteren Nebendarsteller noch lebten, wenn er einen alten Film sah. Und wie sie gestorben waren. Aber wenn er anfing, bei ganz normalen Passanten auf der Straße den Schädel unter der Haut zu erkennen, war es an der Zeit abzuschalten.
Und doch musterte er jetzt misstrauisch den jungen Kellner Elliot und war nahe daran, ihn des Hinterherspionierens zu bezichtigen.
»Nein, danke. Madame Gamache hat schon für mich im Salon bestellt.«
Julia sah Elliot nach, als er sich zurückzog.
»Ein attraktiver junger Mann«, sagte Gamache.
»Finden Sie?«, fragte sie mit amüsierter Stimme, ohne dass man ihre Miene im Dunkeln erkennen konnte. Dann fuhr sie fort: »Ich habe mich gerade daran erinnert, dass ich einmal einen ähnlichen Job hatte, als ich ungefähr so alt war wie er, allerdings lange nichts so Großartiges wie das Hotel hier. Es war ein Ferienjob in einem Imbiss auf der Main in Montréal. Sie wissen schon, Boulevard Saint-Laurent.«
»Ja, kenne ich.«
»Natürlich. Verzeihen Sie. Ein übler Laden. Der Besitzer zahlte einen Hungerlohn und konnte seine Pfoten nicht von mir lassen. Ekelhaft.«
Sie hielt inne.
»Aber ich war begeistert. Mein erster Job. Ich hatte meinen Eltern erzählt, dass ich einen Segelkurs im Jachtklub machte, und sprang stattdessen in den 24er und fuhr nach Osten. Unbekanntes Terrain für Anglos in den Sechzigern. Eine richtige Mutprobe«, sagte sie mit unüberhörbarer Selbstironie in der Stimme. Gamache konnte sich jedoch an die Zeit erinnern und wusste, dass sie recht hatte.
»Ich erinnere mich an meinen ersten Gehaltsscheck. Ich zeigte ihn zu Hause meinen Eltern. Wissen Sie, was meine Mutter sagte?«
Gamache schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Sie betrachtete den Scheck, dann gab sie ihn mir zurück und sagte, ich sei bestimmt stolz auf mich. Und das war ich auch. Aber es war klar, dass sie eigentlich etwas anderes meinte. Und da tat ich etwas sehr Dummes. Ich fragte sie, was sie meinte. Seither weiß ich, dass ich keine Fragen stellen sollte, wenn ich nicht auf die Antwort vorbereitet bin. Sie sagte, ich sei privilegiert und würde das Geld überhaupt nicht brauchen, jemand anderes allerdings schon. Im Grunde hätte ich es einem armen Mädchen gestohlen, das den Job tatsächlich brauchen würde.«
»Das ist nicht nett«, sagte Gamache. »Aber sie hat es doch bestimmt nicht so gemeint.«
»Doch, das hat sie, und sie hatte recht. Am nächsten Tag habe ich gekündigt, aber gelegentlich ging ich an dem Laden vorbei und warf einen Blick durchs Fenster, um der neuen Bedienung bei der Arbeit zuzusehen. Und ich war glücklich.«
»Armut kann die Menschen erdrücken«, sagte Gamache leise. »Aber das kann ein privilegiertes Leben auch.«
»Ich habe das Mädchen sogar beneidet«, sagte Julia. »Dumm, ich weiß. Romantisch. Ich bin sicher, dass sie kein leichtes Leben hatte. Aber ich dachte, dass es vielleicht wenigstens ihr eigenes ist.« Sie lachte und nippte an ihrem Glas. »Sehr gut. Meinen Sie, dass er von den Mönchen hier in der Abtei stammt?«
»Der Bénédictine? Ich weiß es nicht.«
Sie lachte. »Diese Worte höre ich nicht oft.«
»Welche Worte?«
»›Ich weiß es nicht.‹ Meine Familie weiß immer alles. Mein Mann weiß immer alles.«
Die letzten Tage hatten sie über das Wetter geplaudert, den Garten, das Essen im Manoir. Das war das erste ernsthafte Gespräch, das er mit einem der Finneys führte, und es war das erste Mal, dass diese Frau ihren Ehemann erwähnte.
»Ich bin schon ein paar Tage früher ins Manoir gekommen. Um …«
Sie schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte, und Gamache wartete. Er hatte alle Zeit und Geduld der Welt.
»Ich bin gerade dabei, mich scheiden zu lassen. Ich weiß nicht, ob Sie das wissen.«
»Ich habe davon gehört.«
Die meisten Kanadier hatten davon gehört. Julia Martin war mit David Martin verheiratet, dessen spektakulärer wirtschaftlicher Erfolg und noch spektakulärerer Niedergang von den Medien genüsslich auseinandergenommen worden war. Er hatte sein Vermögen mit Versicherungen gemacht und war zu einem der reichsten Männer Kanadas aufgestiegen. Sein Niedergang hatte vor einigen Jahren begonnen. Er hatte sich quälend lange hingezogen, so als rutsche jemand einen schlammigen Abhang hinunter. Man hatte ständig den Eindruck, er könnte die Talfahrt aufhalten, aber stattdessen sammelte sich dabei immer schneller immer mehr Schlamm und Dreck an. Bis es schließlich selbst seine Feinde nicht mehr mit ansehen konnten.
Er hatte alles verloren, sogar seine Freiheit.
Seine Frau hatte ihm beigestanden. Groß, elegant, würdevoll. Statt mit ihrem privilegierten Leben Neid zu wecken, hatte sie es irgendwie geschafft, die Zuneigung der Leute zu gewinnen. Die Leute mochten ihre Fröhlichkeit, die sich mit Sensibilität paarte. Ihre Würde und Aufrichtigkeit machten es möglich, sich mit ihr zu identifizieren. Zu guter Letzt bewunderten sie diese Frau sogar, weil sie sich öffentlich entschuldigte, als schließlich klar war, dass ihr Mann alle und jeden angelogen und Zehntausende von Menschen um ihre gesamten Ersparnisse gebracht hatte. Und sie hatte versprochen, das Geld zurückzuzahlen.
Inzwischen saß David Martin in einem Staatsgefängnis in British Columbia ein, und Julia Martin war nach