Lange Schatten. Louise Penny
reservieren sollen, in dem Sie letztes Jahr waren. Aber wir sind ausgebucht. Eine Familie, die Finneys, hat die übrigen fünf Zimmer genommen. Sie sind hier …«
Sie unterbrach sich und blickte mit einem für sie völlig untypischen sorgenvollen Ausdruck auf das Buch, sodass sich die Gamaches fragend ansahen.
»Sie sind hier …?«, versuchte Gamache ihr auf die Sprünge zu helfen, als das Schweigen fortdauerte.
»Ach, wir haben bestimmt noch Gelegenheit, darüber zu plaudern«, sagte sie und lächelte. »Es tut mir jedenfalls leid, dass wir kein besseres Zimmer für Sie haben.«
»Wenn wir das Seezimmer unbedingt gewollt hätten, hätten wir Sie darum gebeten«, sagte Reine-Marie. »Sie müssen wissen, Armand macht gerne mal eine Reise ins Ungewisse. Abenteuerlustig, wie er ist.«
Clementine Dubois lachte, sie wusste genau, dass das nicht stimmte. Dieser Mann lebte Tag für Tag im Ungewissen. Deshalb wollte sie ja auch, dass ihre alljährlichen Besuche im Manoir so luxuriös und bequem wie möglich ausfielen. Und friedvoll.
»Wir haben uns noch nie ein bestimmtes Zimmer gewünscht«, sagte Gamache mit seiner tiefen, angenehmen Stimme. »Können Sie sich vorstellen, warum?«
Madame Dubois schüttelte den Kopf. Sie hatte sich das schon lange gefragt, aber sie nahm ihre Gäste nie ins Verhör, insbesondere diese nicht. »Die anderen machen das alle«, sagte sie. »Die Familie hier hat sogar einen Preisnachlass herausschlagen wollen. Fahren im Mercedes und BMW vor und feilschen dann.« Sie lächelte. Nicht böse, sondern verwundert, dass es Leute gab, die den Hals offenbar nicht vollkriegten.
»Wir wollen es dem Schicksal überlassen«, sagte er. Sie fragte sich, ob er einen Witz machte, und musterte sein Gesicht, aber er wirkte völlig ernst. »Wir sind mit dem zufrieden, was Sie uns zuteilen.«
Und Clementine Dubois wusste, dass das stimmte. Ihr ging es genauso. Jeden Morgen, wenn sie aufwachte, war sie überrascht, einen neuen Tag begrüßen zu dürfen, überrascht, hier zu sein, in diesem alten Jagdhaus, an den Ufern des glitzernden Sees, umgeben von Wäldern und Bächen, Gärten und Gästen. Es war ihr Zuhause, und die Gäste waren wie eine Familie für sie. Wobei Madame Dubois aus bitterer Erfahrung wusste, dass man sich seine Verwandten nicht auswählen konnte und sie auch nicht immer mochte.
»Das hier ist es.« Sie hielt eine lange Schlüsselkette in die Höhe, an der ein alter Messingschlüssel baumelte. »Das Waldzimmer. Es liegt leider nach hinten hinaus.«
Reine-Marie lächelte. »Wir kennen es, danke.«
Die Tage flossen sanft ineinander, während die Gamaches im Lac Massawippi schwammen und durch die duftenden Wälder spazierten. Sie lasen und plauderten mit den anderen Gästen, die sie nach und nach besser kennenlernten.
Sie waren den Finneys vor ein paar Tagen das erste Mal begegnet, aber sie waren ihnen in dem einsam gelegenen Feriendomizil bereits eine gern gesehene Gesellschaft geworden. Sie waren wie erfahrene Reisende auf großer Fahrt, die sich nie zu distanziert und nie zu aufdringlich verhielten. Sie wussten nicht einmal, womit die anderen ihren Lebensunterhalt verdienten, was Armand Gamache aber nur recht war.
Es war früher Nachmittag, und Gamache beobachtete eine Biene, die auf einer besonders prächtigen knallrosa Rosenblüte herumkrabbelte, als eine Bewegung in seinem Augenwinkel seine Aufmerksamkeit erregte. Er drehte sich auf seinem Liegestuhl um und sah zu, wie Thomas Finney, der Sohn der Familie, und seine Frau Sandra aus dem Haus in den hellen Sonnenschein traten. Sandra schob sich mit ihrer schlanken Hand eine riesige schwarze Sonnenbrille auf die Nase, die sie ein wenig wie eine Fliege aussehen ließ. Sie wirkte wie ein Fremdkörper an diesem Ort, auf jeden Fall war es nicht ihre natürliche Umgebung. Gamache schätzte sie auf Ende fünfzig, Anfang sechzig, auch wenn sie sich ganz offensichtlich bemühte, für wesentlich jünger durchzugehen. Merkwürdig, dachte er, dass gefärbte Haare, dicke Schminke und jugendliche Kleidung einen Menschen letztlich älter aussehen ließen.
Sie schritten auf den See zu, wobei Sandras Absätze den Rasen vertikutierten, und blieben immer mal wieder stehen, als warteten sie auf Applaus. Aber das einzige Geräusch, das Gamache vernahm, kam von einer Biene in einer Rose, deren Flügelchen ein zartes Rattern wie von Rotorblättern erzeugten.
Thomas stand oben auf dem Kamm des flachen Hügels, der zum See hinunterführte, ein Admiral auf seiner Brücke. Seine stechenden blauen Augen wanderten über das Wasser wie die Nelsons bei Trafalgar. Gamache wurde bewusst, dass er jedes Mal, wenn er Thomas sah, an einen Mann denken musste, der sich auf eine große Schlacht vorbereitete. Thomas Finney war unbestritten ein gut aussehender Mann Anfang sechzig. Mit seinen grauen Haaren und fein geschnittenen Zügen gab er eine elegante Erscheinung ab. In den wenigen Tagen, die sie bislang gemeinsam hier verbracht hatten, hatte Gamache allerdings auch einen gewissen Sinn für Ironie an dem Mann bemerkt, einen zurückhaltenden Humor. Er war überheblich und arrogant, aber er schien sich dessen auch bewusst zu sein und sich darüber lustig zu machen. Das gefiel Gamache, und er merkte, dass er sich für den Mann langsam zu erwärmen begann. Wobei er sich in der Gluthitze des heutigen Tages für alles zu erwärmen begann, insbesondere die alte Ausgabe des Life-Magazins, dessen Druckerschwärze auf seine verschwitzten Hände abfärbte.
, las er auf seine Handfläche eintätowiert. Leben, nur verkehrt herum.Thomas und Sandra waren geradewegs an seinen alten Eltern vorbeigelaufen, die es sich auf der schattigen Veranda bequem gemacht hatten. Gamache wunderte sich erneut darüber, wie gut es die einzelnen Mitglieder dieser Familie verstanden, so zu tun, als wären die anderen unsichtbar. Über seine Lesebrille hinweg sah Gamache, wie Thomas und Sandra ihren Blick über die wenigen Leute im Garten und am Ufer schweifen ließen. Julia Martin, die ältere der beiden Schwestern und einige Jahre jünger als Thomas, saß allein auf einem bequemen Liegestuhl an der Anlegestelle und las. Sie trug einen schlichten weißen Badeanzug. Mit Ende fünfzig war sie immer noch schlank und glänzte wie ein Pokal. Sie sah aus, als habe sie in Sonnenblumenöl gebadet und brutzle jetzt in der Sonne. Mit einem gewissen Grauen stellte sich Gamache vor, wie ihre Haut Blasen zu werfen begann. Von Zeit zu Zeit ließ Julia ihr Buch sinken und blickte über den stillen See. Nachdenklich. Nach allem, was Gamache von Julia Martin wusste, hatte sie auch Grund, über das eine oder andere nachzudenken.
Auf dem Rasen vor dem Ufer tummelte sich der Rest der Familie, das heißt, die jüngere Schwester Mariana und ihr Kind Bean. Während Thomas und Julia schlank und gut aussehend waren, war Mariana klein, dicklich und ziemlich hässlich. Sie war die Antithese zu den beiden. Ihre Kleider schienen einen heimlichen Groll gegen sie zu hegen und rutschten entweder an ihr herunter oder hoch, sodass sie ständig an sich herumzupfen musste und etwas zurechtschob, -zog oder -rückte.
Das etwa zehnjährige Kind dagegen war mit seinen langen, von der Sonne gebleichten blonden Haaren, den dichten dunklen Wimpern und strahlend blauen Augen sehr hübsch. Im Moment schien Mariana Tai-Chi zu machen, allerdings sahen die Figuren so aus, als hätte sie sie selbst erfunden.
»Sieh mal, Schätzchen, ein Kranich. Mommy ist ein Kranich.«
Die dickliche Frau stand auf einem Bein, die Arme gen Himmel gestreckt und auch den Hals so weit wie irgend möglich nach oben gereckt.
Bean ignorierte Mommy allerdings und las einfach weiter. Gamache dachte, wie sehr sich dieses Kind langweilen musste.
»Das ist die allerschwierigste Übung«, sagte Mariana lauter als nötig und erdrosselte sich im nächsten Augenblick beinahe mit einem ihrer Schals. Gamache hatte bemerkt, dass Mariana ihre Tai-Chi-, Yoga- und Meditationsübungen immer nur dann machte, wenn Thomas auf der Bildfläche erschien.
Versuchte sie, ihren Bruder zu beeindrucken, fragte er sich, oder wollte sie, dass er sich für sie schämte? Thomas sah kurz zu dem schwankenden fetten Kranich und dirigierte Sandra in die andere Richtung. Sie fanden zwei einsame Stühle im Schatten.
»Du spionierst den beiden doch nicht etwa hinterher?«, fragte Reine-Marie und ließ ihr Buch sinken.
»Hinterherspionieren wäre zu viel gesagt. Ich beobachte.«
»Solltest