Lange Schatten. Louise Penny
Gedanke an den Schmerz, den er manchmal verursachte, brach ihm das Herz, besonders wenn es dieses Dorf betraf.
Er wusste, dass er etwas in der Hand hielt, das genau dazu und zu noch Schlimmerem führen konnte. Seine Gewissheit hatte wahrscheinlich nicht nur mit seinen telepathischen Kräften zu tun, sondern auch mit einer ihm nicht bewussten Begabung, Handschriften entziffern zu können. Sowohl die Worte als auch das, was ihnen zugrunde lag. Die schlichte, völlig normale dreizeilige Adresse auf dem Umschlag verriet ihm mehr als nur den Ort, an dem er den Brief abzugeben hatte. Die Hand war alt, dachte er, und sie hatte gezittert. Nicht nur wegen des Alters, sondern auch vor Wut. Von diesem Brief war nichts Gutes zu erwarten. Auf einmal wollte er ihn so schnell wie möglich loswerden.
Eigentlich hatte er vorgehabt, im Bistro vorbeizuschauen, ein kaltes Bier und ein Sandwich zu bestellen, mit Olivier, dem Besitzer, zu plaudern und, weil er heute ein wenig faul war, darauf zu warten, ob nicht jemand kam, um sich seine Post bei ihm abzuholen. Aber auf einmal war die Faulheit vergessen. Die erstaunten Dorfbewohner waren mit einem ungewohnten Anblick konfrontiert: ihrem Postboten, der es eilig hatte. Abrupt machte er auf dem Absatz kehrt und ging mit entschlossenen Schritten weg vom Bistro, zu einem rostigen Briefkasten vor einem Cottage, das am Dorfanger stand. Die Klappe des Briefkastens quietschte erbärmlich, als er sie öffnete. Das verstand er gut. Er warf den Brief ein und ließ die Klappe schnell wieder zufallen. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn der Briefkasten gewürgt und das verfluchte Ding wieder ausgespien hätte. Die Briefe waren für ihn zu Lebewesen geworden und die Briefkästen so etwas wie Haustiere. Und diesem Briefkasten hier hatte er eben etwas Schreckliches angetan. Genau wie den Leuten, denen er gehörte.
Selbst wenn Armand Gamache mit Blindheit geschlagen gewesen wäre, hätte er genau gewusst, wo er sich befand. Es war der Geruch. Die Kombination von Holzfeuer, alten Büchern und Geißblatt.
»Monsieur und Madame Gamache, es ist mir eine Freude.«
Clementine Dubois watschelte um den Empfangstisch des Manoir Bellechasse, die Haut hing wie Flügel an ihren ausgebreiteten Armen herunter und zitterte, was sie wie einen Vogel oder einen lädierten Engel aussehen ließ, als sie zielstrebig auf sie zukam. Auch Reine-Marie Gamache streckte die Arme aus, nicht dass sie die dicke Frau ganz hätte umfassen können. Sie umarmten sich und küssten sich auf die Wangen. Nachdem auch Gamache Küsschen mit Madame Dubois ausgetauscht hatte, trat diese einen Schritt zurück und musterte das Paar. Vor ihr stand Reine-Marie, eine Frau in mittleren Jahren, klein, weder allzu beleibt noch allzu schlank, die Haare ergraut und ein Gesicht, in dem ein erfülltes Leben seine Spuren hinterlassen hatte. Sie war attraktiv, ohne eigentlich hübsch zu sein. Ebendas, was man auf Französisch soignée nannte. Sie trug einen gut sitzenden dunkelblauen Rock, der ihr bis zur Wade reichte, und eine frisch gebügelte weiße Bluse. Schlicht, elegant, klassisch.
Der Mann, Mitte fünfzig, war groß und kräftig. Er war zwar nicht dick, aber man sah ihm an, dass er gute Bücher, eine ausgezeichnete Küche und müßige Spaziergänge zu schätzen wusste. Er sah wie ein Professor aus, aber Clementine Dubois wusste, dass er das nicht war. Sein einstmals welliges dunkles Haar begann sich oben zu lichten und grau zu werden, besonders an den Schläfen und den Löckchen an den Seiten, die fast bis zum Kragen reichten. Bis auf den gepflegten Schnurrbart war er glatt rasiert. Er trug ein marineblaues Jackett, kakifarbene Hose und ein hellblaues Hemd mit Krawatte. Wie immer war er korrekt gekleidet, selbst in der zunehmenden Hitze an diesem Tag Ende Juni. Das Bemerkenswerteste an ihm waren allerdings seine Augen. Ein tiefes, warmes Braun. Ruhe und Gelassenheit umgaben ihn wie andere Männer eine Rasierwasserwolke.
»Sie sehen erschöpft aus.«
Die meisten Hotelbesitzer hätten gerufen: »Sie sehen fabelhaft aus.« »Mais, voyons, Sie haben sich kein bisschen verändert.« Oder sogar: »Sie sehen jünger aus denn je«, wohl wissend, dass alte Ohren niemals müde werden, das zu hören.
Aber auch wenn Gamaches Ohren noch nicht für alt gelten konnten, müde waren sie. Es war ein langes Jahr gewesen, und sie hatten mehr vernehmen müssen, als sie wollten. Wie immer waren die Gamaches ins Manoir Bellechasse gekommen, um all das hinter sich zu lassen. Während der Großteil der Menschheit das neue Jahr Anfang Januar feierte, begingen die Gamaches es im Sommer, wenn sie diesen von der Welt abgeschiedenen Ort aufsuchten und neu begannen.
»Wir sind tatsächlich etwas erschöpft«, gab Reine-Marie zu und ließ sich dankbar in den bequemen Sessel neben dem Empfangstisch sinken.
»Darum werden wir uns schon kümmern.« Madame Dubois kehrte mit ein, zwei schnellen Schritten zu ihrem Tisch zurück und ließ sich mit einer eleganten Drehung auf ihrem Armlehnstuhl nieder. Sie zog das Meldebuch zu sich heran und setzte ihre Lesebrille auf. »So, in welches Zimmer haben wir Sie denn dieses Jahr gesteckt?«
Armand Gamache setzte sich neben seine Frau, und sie wechselten einen Blick. Würden sie in diesem Buch zurückblättern, dann fänden sie Jahr für Jahr ihre Unterschriften, bis zu einem Juni vor dreißig Jahren, als der junge Armand genug Geld gespart und Reine-Marie hierhergebracht hatte. Für eine Nacht. In das allerkleinste, nach hinten gelegene Zimmer des eleganten, ehrwürdigen Manoir. Ohne Blick auf die Berge oder den See oder den Garten mit den üppigen Pfingstrosen und den früh blühenden Rosen. Er hatte monatelang gespart, weil er wollte, dass dieser Besuch etwas Besonderes wurde. Weil er wollte, dass Reine-Marie wusste, wie sehr er sie liebte, wie viel sie ihm bedeutete.
Hier hatten sie ihre erste gemeinsame Nacht verbracht, der süße Geruch des Waldes, des Thymians und Flieders war in so dichten Wolken durch das Fenster ins Zimmer geströmt, dass man glaubte, ihn greifen zu können. Den betörendsten Duft aber hatte sie verströmt, frisch und warm in seinen starken Armen. In dieser Nacht hatte er ihr einen Liebesbrief geschrieben. Er hatte sie vorsichtig mit dem glatten weißen Laken zugedeckt, dann hatte er sich in den Schaukelstuhl gesetzt, natürlich ohne zu schaukeln, weil er fürchtete, dass er gegen die Wand hinter ihm oder mit den Schienbeinen an das Bettgestell vor ihm stoßen und Reine-Marie stören könnte, und ihren ruhigen Atemzügen gelauscht. Dann hatte er auf dem Briefpapier des Manoir Bellechasse zu schreiben begonnen: Meine Liebe kennt keine …
Wie kann ein Mensch solch eine …
Mein Herz und meine Seele sind wie aus einem tiefen Schlaf …
Meine Liebe für dich …
Die ganze Nacht hatte er geschrieben, und am nächsten Morgen hatte Reine-Marie am Badezimmerspiegel folgende Nachricht gefunden.
Ich liebe dich.
Schon damals war Clementine Dubois hier im Manoir gewesen, dick, teigig und freundlich. Schon damals war sie alt gewesen, und jedes Jahr hatte Gamache Sorge, dass eine unbekannte, geschäftsmäßige Stimme sagen würde: »Guten Tag, Manoir Bellechasse. Wie kann ich Ihnen helfen«, wenn er die Reservierung vornahm. Stattdessen hieß es stets: »Monsieur Gamache, wie schön, von Ihnen zu hören. Ich hoffe, Sie wollen uns wieder mit Ihrem Besuch beehren?« So ähnlich, wie wenn man seine Oma besuchte. Allerdings in einem weitaus nobleren Haus.
Während sich Gamache und Reine-Marie ganz offensichtlich verändert hatten – sie hatten geheiratet, zwei Kinder und eine Enkeltochter bekommen, und das zweite Enkelkind war unterwegs –, schien Clementine Dubois weder zu altern noch schwächer zu werden. Genauso wenig wie Madame Dubois’ Liebe, das Manoir. Es machte fast den Eindruck, als wären die beiden eins, beide gastfreundlich und sorgend, großzügig und offen. Darüber hinaus auf eine rätselhafte und wunderbare Weise unwandelbar in einer Welt, die ständigem Wandel unterworfen zu sein schien. Allerdings nicht immer zum Besseren.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Reine-Marie, als sie Madame Dubois’ Miene sah.
»Ich scheine alt zu werden«, sagte sie und blickte mit einem verstörten Ausdruck auf. Gamache lächelte ihr beruhigend zu. Seiner Rechnung nach musste sie mindestens hundertzwanzig sein.
»Wenn Sie kein Zimmer frei haben, ist das nicht schlimm. Dann kommen wir in einer anderen Woche wieder«, sagte er. Von Montréal, wo sie wohnten, bis zu den Eastern Townships in Québec brauchte man mit dem Auto nicht länger als zwei Stunden.
»Nein,