Lange Schatten. Louise Penny
aber so wie alle Gäste in dem wunderbaren alten Jagdhaus glaubte Gamache fest an die Wettervorhersagen des Maître d’, die dieser mithilfe seiner auf dem ganzen Anwesen verteilten, selbstgebauten Instrumente erstellte. Es sei ein Hobby, hatte der Maître d’ einmal erklärt, das von Vater zu Sohn weitergegeben wurde.
»Manche Väter bringen ihren Söhnen bei, wie man jagt und fischt. Meiner nahm mich mit in den Wald und führte mich in die Wetterkunde ein«, hatte er gesagt, als er Gamache und Reine-Marie das Barometer und das alte Glasgefäß gezeigt hatte, das bis zur Tülle mit Wasser gefüllt war. »Jetzt bringe ich es ihnen bei.« Pierre Patenaude hatte in Richtung der jungen Leute gedeutet, die hier arbeiteten. Gamache hoffte, dass sie gut aufpassten.
Im Bellechasse gab es kein Fernsehen, und selbst Radio konnte man nur ausnahmsweise empfangen, und das bedeutete, dass auch die Wetterberichte der großen Wetterstationen nicht zu ihnen gelangten. Damit blieben nur Patenaude und seine sagenumwobene Fähigkeit zur Wettervorhersage. Jeden Tag, wenn sie zum Frühstück herunterkamen, war der neue Wetterbericht an die Tür des Speisesaals geheftet. Das linderte die schlimmsten Entzugserscheinungen, da sie nun einmal einer Nation angehörten, die nach Wetternachrichten süchtig war.
Jetzt sah Patenaude hinaus in den friedvollen Garten. Es rührte sich kein Blättchen.
»Ja. Zuerst kommt die Hitze, dann das Gewitter. Sieht mir ganz nach einem heftigen Unwetter aus.«
»Danke.« Gamache hob sein Limonadenglas und ging wieder hinaus.
Er liebte Sommergewitter, besonders im Bellechasse. Hier konnte man sie kommen sehen, anders als in Montréal, wo sie unvermittelt über einem loszubrechen schienen. Zuerst färbten die dunklen Wolken den Himmel am gegenüberliegenden Seeufer schwarz, um sich nach einer Weile in schweren Regenfällen zu ergießen. Das Gewitter schien sich zu sammeln, tief Luft zu holen, und dann marschierte es in einer breiten Phalanx los über den See. Mittlerweile nahm der Wind an Stärke zu, fing sich in den großen Bäumen und schüttelte sie wild hin und her. Dann schlug das Gewitter zu. Bumm! Und während der Sturm heulte und blies und sich gegen das Haus warf, würde er sich zusammen mit Reine-Marie hinter den dicken Wänden des Manoir in Sicherheit befinden.
Als er hinaustrat, prallte er gegen die Hitze wie gegen eine Mauer.
»Zucker gefunden?«, fragte Reine-Marie, streckte die Hand aus und berührte seine Wange, als er sich vorbeugte, um ihr einen Kuss zu geben, bevor er sich setzte.
»Ja.«
Sie nahm ihre Lektüre wieder auf, und Gamache griff nach dem Devoir, aber seine große Hand blieb über den Schlagzeilen in der Luft hängen. Neues Unabhängigkeitsreferendum? Bandenkrieg unter Bikern. Viele Tote bei einem Erdbeben.
Seine Hand wanderte weiter zu dem Limonadenglas. Das ganze Jahr über lief ihm bei dem Gedanken an die hausgemachte Limonade im Manoir Bellechasse das Wasser im Mund zusammen. Sie schmeckte frisch und sauber, süß und sauer. Sie roch nach Sonne und Sommer.
Gamache spürte, wie seine Schultern nachgaben. Die angespannte Wachsamkeit ließ nach. Wie angenehm. Er nahm seinen weichen Sonnenhut ab und wischte sich über die Stirn. Es wurde immer schwüler.
Während er so friedlich dasaß, konnte Gamache sich plötzlich nicht mehr vorstellen, dass sich ein Sturm zusammenbrauen sollte. Aber er merkte, wie der Schweiß in schmalen Bahnen an seinem Rückgrat entlanglief. Er meinte den wachsenden Luftdruck zu spüren, und die Worte, die der Maître d’ ihm hinterhergerufen hatte, kamen ihm wieder in den Sinn.
»Morgen wird es mörderisch.«
2
Nachdem sich die Gamaches mit einer Runde im See und einem Gin Tonic auf dem Steg erfrischt hatten, duschten sie und gesellten sich zu den anderen Gästen im Speisesaal. Kerzen brannten in Sturmlampen, und jeder Tisch war mit einem kleinen Blumengesteck aus alten englischen Rosen geschmückt. Auf dem Kaminsims stand ein üppigeres Gesteck, fast eine Skulptur aus Pfingstrosen und Flieder, zartblauem Rittersporn und hinfällig entrücktem Tränendem Herz.
Die Finneys saßen zusammen an einem Tisch, die Männer in Dinnerjacketts, die Frauen in luftigen Sommerkleidern, da es selbst zu dieser Stunde noch warm war. Bean trug weiße Shorts und ein froschgrünes T-Shirt.
Die Gäste sahen zu, wie die Sonne hinter den sanften Hügeln am Lake Massawippi unterging, und genossen dabei die verschiedenen Gänge, angefangen bei dem amuse-bouche aus einheimischem Karibu. Reine-Marie hatte die escargots à l’ail gewählt, gefolgt von gebratener Entenbrust mit einem confit von wildem Ingwer, Mandarine und Kumquat. Gamache aß einen bunten Gartensalat mit gehobeltem Parmesan, danach Wildlachs mit Sauerampferjoghurt.
»Und zum Dessert?« Pierre zog eine Flasche aus dem Weinkühler und schenkte ihnen nach.
»Was können Sie denn empfehlen?« Reine-Marie traute ihren Ohren nicht. Hatte sie das wirklich gefragt?
»Für Madame hätten wir frisches Minzeeis auf einem mit dunkler Bioschokoladencreme gefüllten Eclair, und für Monsieur einen Pudding du chômeur à l’érable avec crème chantilly.«
»Oje«, flüsterte Reine-Marie und wandte sich an ihren Mann. »Wie heißt dieser berühmte Satz von Oscar Wilde noch mal?«
»›Allem kann ich widerstehen, nur der Versuchung nicht.‹«
Sie bestellten das Dessert.
Als sie zu guter Letzt keinen einzigen Bissen mehr hätten hinunterbringen können, kam der Käsewagen, beladen mit verschiedenen von den Mönchen in der nahe gelegenen Benediktinerabtei Saint-Benoit-du-Lac hergestellten Käsesorten. Die Brüder führten ein Leben in Kontemplation, sie hielten Vieh, gingen ihrer Arbeit in der Käserei nach und übten sich in gregorianischen Gesängen von so großer Schönheit, dass sie weltberühmt damit geworden waren, was bei Männern, die sich bewusst von der Welt zurückgezogen hatten, nicht einer gewissen Ironie entbehrte.
Während Armand Gamache seinen fromage bleu genoss, blickte er über den See in einen nur langsam verblassenden Himmel, so als würde ein so schöner Tag nur unwillig zu einem Ende kommen. In der Ferne war ein einzelnes Licht zu sehen. Ein Cottage. Es wirkte keineswegs wie ein Eindringling in der unberührten Natur, im Gegenteil, es hatte etwas Anheimelndes. Gamache stellte sich vor, dass eine Familie am Ufer saß und nach Sternschnuppen Ausschau hielt oder in der schlichten Stube beim Licht von Propangaslampen Rommé, Scrabble oder Cribbage spielte. Sie hatten natürlich Strom dort, aber ihm gefiel die Vorstellung, dass Menschen, die tief in den Wäldern von Québec lebten, nur Gaslampen benutzten.
»Ich habe heute mit Roslyn in Paris gesprochen.« Reine-Marie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, der dabei leise knarrte.
»Wie geht es ihr?« Gamache musterte das Gesicht seiner Frau, obwohl er wusste, dass, wenn es ein Problem gäbe, sie ihm dies schon längst mitgeteilt hätte.
»So gut wie nie. Noch zwei Monate. Es wird also im September zur Welt kommen. Ihre Mutter fliegt nach Paris, um sich um Florence zu kümmern, wenn das Kleine da ist, und Roslyn hat gefragt, ob wir nicht auch kommen wollen.«
Er lächelte. Sie hatten natürlich schon darüber geredet. Nichts könnte sie davon abhalten, ihre Enkelin Florence, ihren Sohn und ihre Schwiegertochter zu besuchen. Und das neue Baby. Jedes Mal, wenn Gamache daran dachte, überkam ihn ein schier unfassbares Glücksgefühl. Allein die Vorstellung, dass sein Kind selbst ein Kind hatte, schien ihm geradezu unglaublich.
»Sie haben schon Namen ausgesucht«, sagte sie beiläufig. Aber Gamache kannte seine Frau, ihr Gesicht, ihre Hände, ihren Körper, ihre Stimme. Und die Stimme hatte plötzlich einen etwas anderen Ton angenommen.
»Erzähl.« Er legte die Gabel mit dem Käse auf den Teller und faltete seine großen, ausdrucksstarken Hände auf der weißen Damasttischdecke.
Reine-Marie sah ihren Ehemann an. Er wirkte immer so ruhig und gelassen, was aber nur noch zu dem Eindruck von Stärke beitrug.
»Wenn es ein Mädchen wird, soll sie Geneviève Marie Gamache heißen.«
Gamache